Der Nautilus-Plan
als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Einen Augenblick lang weigerte sich ihr Verstand, leugneten ihre Augen … doch dann drang es zu ihr durch.
Sie schrie. Sofort hielt sie sich eine Hand an den Mund, und ihr stieg Galle in die Kehle. Es war keineswegs das erste Mal, dass sie einen Ermordeten sah, aber irgendwie war das hier trotzdem schlimmer. Es war so unerwartet. So schockierend. Sie zwang sich, noch einmal hinzusehen.
Seinen mächtigen Oberkörper gegen die Rückwand gelehnt, saß Mac auf dem Boden des Schranks, fast so, als hätte er es sich dort bequem gemacht. Seine Kleider waren glatt gestrichen, sein Haar ordentlich gekämmt, seine Beine übereinander geschlagen. Aber von der Seite seines Halses hing schlaff eine Injektionsspritze, deren Nadel so tief eingestochen worden war, dass nichts mehr von ihr zu sehen war. Seine Augen waren weit offen, aber starr.
Sie hatte sich noch nicht wieder einen undurchdringlichen Panzer zugelegt. Sich noch nicht wieder an diese Brutalität gewöhnt. Sie war nicht abgebrüht, nicht gleichgültig, nicht dickfellig. Für sie war das nicht einfach nur ein Teil ihres Jobs, ein Auftrag. Einen solchen Schock konnten auch noch so viel Erfahrung und Training nicht abschwächen, sie halfen einem nur, die daraus resultierende Reaktion zu kontrollieren. Auf der Farm lernte man, dass gegen den Schock selbst keiner gefeit war. Nur ihr Aufschrei hatte sie verraten.
Sie kniete neben Mac nieder, drückte ihm die Augen zu, lauschte an seiner Brust. Nichts. Sie konnte es nicht glauben. Doch nicht Mac. Sie ließ sich auf die Hacken nieder und befahl ihrem Herzen, nicht mehr so heftig zu schlagen, damit sie in sein kaltes marmornes Gesicht blicken und sich an sein Aussehen erinnern konnte, als es noch voller Leben gewesen war. Er war ein Profi gewesen. Er war in der Lage gewesen, auf sich selbst aufzupassen. Er war so gut gewesen, dass er den Auftrag erhalten hatte, auf sie aufzupassen.
Nein, das stimmte nicht. Da war noch etwas, was sie auf der Farm gelernt hatten: Kein Agent war so gut, dass er oder sie nicht jede Minute, jede Sekunde in Gefahr schwebte.
Mit brennenden Augen machte sie ein paar Schritte zurück und setzte sich auf das Bett. Sie hatte Mac gemocht, trotz der Rolle, die er bei ihrer ersten Begegnung gespielt hatte, und ungeachtet ihres Misstrauens. Von wilder Wut gepackt, sprang sie auf und rannte ans Fenster. Sie musste die Frau warnen. Doch im selben Moment, in dem sie nach unten schaute, klingelte das Handy. Vielleicht war es Simon. Sie griff nach ihrer Handtasche, nahm das Handy heraus und kehrte ans Fenster zurück.
»Kommen Sie zu mir.« Es war eine Frauenstimme mit französischem Akzent.
»Was?«, stieß Liz verdutzt hervor.
»Kommen Sie zu mir, und wir lassen Sarah Walker frei. Fahren Sie mit dem Lift nach unten und verlassen Sie das Hotel durch den Vordereingang. Dort warte ich auf Sie. Ein Lieferwagen wird vorfahren – derselbe schwarze Lieferwagen, der Sarah Walker weggebracht hat. Sie wollen doch, dass sie freikommt, oder nicht?«
Obwohl sich ihr die Kehle zusammenschnürte, verlieh Liz ihrer Stimme einen harten Ton. »Quatsch. Wer sagt mir, dass sie sich tatsächlich in Ihrer Gewalt befindet oder, wenn ja, dass Sie sie auch wirklich freilassen.«
Sie konzentrierte sich auf die Kreuzung, auf die Frau, die ihr letztes lebendes Bindeglied zu Mac war. Die Frau, die in ihr Handy sprach, war inzwischen aufgestanden, sah aber immer noch zu Lizs Fenster hoch. Wie schon kurz zuvor hatte Liz auch jetzt wieder das Gefühl, dass irgendetwas passiert war, doch jetzt richtete es sich gegen sie.
Während Liz wie gebannt auf die Straße hinab spähte, kam wieder die Stimme aus dem Handy, und die Frau an der Bushaltestelle artikulierte die dazu gehörigen Wörter: »Tish Childs. Angus Macintosh. Als Nächste könnte Sarah Walker an der Reihe sein. Was haben Sie schon zu verlieren, wenn Sie sich mit mir unterhalten? Kommen Sie nach unten. Sie möchten sie doch sehen, oder?«
Diesen Schlag musste Liz erst einmal verdauen. Der Blick, den die Frau Mac vor dem Krankenhaus zugeworfen hatte, hatte nicht dazu gedient, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass sie auf dem Posten war. Liz hatte den Blick fälschlicherweise so interpretiert, dass sie als Späherin für Mac arbeitete.
»Sie haben ihn umgebracht!«, stieß sie hervor.
»Es ging ihm nicht darum, Ihnen oder Ihrer Cousine zu helfen.«
Das war doch alles Blödsinn! »Nur weil er tot ist, heißt das noch
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