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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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nicht einigen. Frau Schmulevitch war diesmal auch gegen eine Annon ce in einer überregionalen Zeitung ... der vorletzte Aus weg. Und so blieb eben nur noch der letzte: Mira!
    Mira? Eine Nichte von Schmuel Schmulevitch aus dem Kibbuz Degania D. Nicht weit von hier.
    Am selben Abend, nach der großen Entscheidung für Mira ... lud mich Schmuel Schmulevitch zum Abendes sen ein.
    Unterhielten uns ganz gemütlich:
    »Die war schon mal hier im Salon«, sagte Schmuel Schmulevitch ... »und zwar im Frühling ... hat auch gut gearbeitet. Aber dann ist sie weg. In den Kibbuz.«
    »Und warum, Herr Schmulevitch?«
    »Weil's dort viel zu essen gibt.«
    »Ißt die so viel?«
    »Ja«, sagte Schmuel Schmulevitch. »Die ißt viel.«
    An jenem Abend bei Schmuel Schmulevitch erfuhr ich eine Menge über Mira. Wenn auch nicht alles:
    Mira stammt aus dem kleinen ukrainischen Städtchen Wapnjarka-Podolsk. Wurde  1941  mit allen übrigen Juden des Städtchens auf dem Friedhof erschossen. Auf welchem Friedhof? Auf dem jüdischen Friedhof!
    Nein. Die ist nicht tot!
    »Die ist quicklebendig«, sagte Schmuel Schmulevitch. »Wenn auch stumm. Das kommt von dem Schock!«
    Also: stumm!
    Fortsetzung des Berichts: Miriam oder Mira ist aus dem Massengrab herausgekrabbelt.
    Bemerkung: Ich nehme an, weil die SS schlecht gezielt hatte.
    Fortsetzung des Berichts: Mira kroch nicht alleine heraus. Da war noch eine Frau. Eine alte Frau.
    Und die alte Frau, die jetzt in Palästina ist und die Schmuel Schmulevitch kennt, hat ihm, Schmuel Schmu levitch, folgendes erzählt:
    In der Nähe des Friedhofs wollten wir nicht bleiben. Und so gingen wir fort. Gingen irgendwohin. Gingen zu Fuß. Und Mira war stumm und konnte nicht reden. Aber gehen konnte sie gut. Besser als ich. Denn ich war eine alte Frau. Und Mira war jung.
    Und eines Tages wurden wir geschnappt. Irgendwo war das. Und wurden deportiert. Irgendwohin. Und dort war ein Konzentrationslager. Und dort blieben wir. Und dort wurden wir nicht erschossen. Und auch nicht vergast. Dort gab's bloß nichts zu essen. Oder fast nichts.
    Und als wir 1945 wieder herauskamen, da war die Mira so mager wie ein Skelett: ein Knochengerippe mit Augen ... Augen, die sich manchmal bewegten.
    Und dann fing Mira zu essen an. Aß von früh bis abends. Kaute sogar im Schlaf.
    Eine Freßmaschine. Stumm. Eine stumme Freßmaschine!
    Fragte Schmuel Schmulevitch: »Und wie wollen Sie ›sowas‹ aus einem Kibbuz herauslocken ... zurück in Ihren Friseursalon?«
    Sagte zu mir, der Schmuel Schmulevitch: »Mit einem Versprechen, Herr Finkelstein. Werde zu ihr sagen: ›Mira, mein Kind. Du wirst natürlich wieder bei uns wohnen. Wir werden gut zu dir sein. Und was die Küche meiner Frau anbetrifft: bei uns gibt's jetzt jeden Tag Kuchen, Kuchen soviel du willst.‹«
    Als Mira ... mit etwas Verspätung am Arbeitsplatz erschien, da fiel mir vor Schreck das Rasiermesser aus der Hand. Sowas hatte ich noch nicht gesehen! Schmuel Schmulevitch hatte recht: eine Freßmaschine. Riesig im Umfang. Stumm. Ein Mund, der zum Schwei gen verdammt war. Ein fetter Hintern, der sich gerächt hat an den Hungerjahren.
    Mira gab uns allen die Hand. Vielleicht 28, dachte ich. Oder 30. Nicht mehr. Ein hübsches Gesicht mit kleinen Grübchen. Aber die Augen ... Wie ein Fisch, dachte ich. Ein toter Fisch, der die Augen bewegt.
    Ich dachte nicht mehr an Jankl Schwarz. Ich dachte nur noch an Mira. Tagsüber, im Laden ... pardon: im Salon ... hatte ich sichtlich Mühe, mich zu konzentrieren. Ich meine: auf meine wichtige und verantwortungsvolle Arbeit. Ich würgte mittags das Essen herunter, wußte kaum, was ich aß. Natürlich frühmorgens beim Früh stück genauso. Und auch abends. Ich esse nämlich drei mal täglich.
    Das Essen schmeckte nicht mehr. Hatte keinen Geruch. War geruchlos.
    Nachts lag ich wach, dachte an Mira, wälzte mich im einsamen Bett ... denn da war es plötzlich einsam ... Sagte zu mir: »So ist das. Jetzt weißt du, was das ist: ein einsames Bett!"
    Seit Mira in mein Leben hineinstieg ... mit all dem Fett und all den stummen Schreien ... onaniere ich Tag und Nacht. Kann kaum auf den Füßen stehen. Mache das tagsüber auf der Toilette des Friseursalons Schmuel Schmulevitch, nachts im einsamen Bett.
    Sehen Sie, Mira verkörpert irgend etwas für mich, was ich zu kennen glaube und doch nicht recht begreife. Wenn ich an sie denke, dann kriege ich Lust, zuzustoßen, zu zertrümmern, aufzufressen, mir einzuverleiben, verliere dabei guten Samen ...

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