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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Hilsenrath
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Der 5. Stock ist im Eimer. Und der 4. Stock. Und der 3. Stock. Und der 2. Stock. Und der 1. Stock. Nur das Erdgeschoß ist noch da ... aber ohne Zimmerdecke. Aber der Keller, der ist schließlich ein Keller! Nur die Hausnummer, die müßte man ändern. Du bist doch von der SS, Günter, ein SS-Rottenführer. Kannst du da nicht was machen?«
    Der Schwarzmarkt spielte sich in der Altstadt ab, in den gewundenen, engen Gäßchen hinter dem Rathaus und dem Tor der Hoffnung. Trotz der täglichen Razzien und den Knüppelhieben der weißbehelmten M.P. wurde hier munter weitergehandelt. Obwohl Frau Holle nicht viel von Schwarzgeschäften verstand, war sie überzeugt, daß es nichts auf dieser Welt gab, was man nicht auch auf dem Schwarzmarkt von Warthenau kaufen konnte. Und jedesmal, wenn Frau Holle herkam, dachte sie insge heim: Mein Gott - ist das ein Gefeilsche! Wenn das der Führer wüßte! Der käme vom Himmel zu uns herab!
    Frau Holle haßte den Schwarzmarkt und sie hatte erst unlängst zu dem jungen Willi gesagt: »Deutschland ist eine Räuberhöhle. Überall blüht der Schwarzmarkt. Als ob wir für den Schwarzmarkt gekämpft hätten! Das ist eine Schande. Stimmt's, Willi?«
    Und der Junge hatte gesagt: »Ja, Frau Holle.« Und sie hatte gesagt: »Das deutsche Volk hungert. Und die Leute rennen auf den verdammten Schwarzmarkt, um ihre letzten Habseligkeiten zu verkaufen. Das ist eine Schande. Und der Schwarzmarkt ist eine Schande.«
    Und der Junge hatte gesagt: »Das haben wir den Juden zu verdanken.«
    Und Frau Holle hatte gesagt: »Ja, das stimmt, Willi.«
    Und Willi hatte gesagt: »Unlängst war ich auf dem Land - bei den Bauern - die haben Lebensmittel versteckt - aber die verlangen Wucherpreise, wie die Juden.«
    Und Frau Holle hatte gesagt: »Willi, die deutschen Bauern - das sind alles Juden.«
    Und Willi hatte gesagt: »Ja, Frau Holle, das stimmt.«
    Und Frau Holle hatte gesagt: »Glaubst du, daß der Führer gewußt hat, daß die deutschen Bauern Juden sind?«
    Und Willi hatte gesagt: »Das weiß ich nicht, Frau Holle.«
    Als Frau Holle auf dem Schwarzmarkt ankam, war sie ganz verschwitzt. Ihr rechter Fuß schmerzte von dem langen Spaziergang, auch der linke Beinstumpf schmerz te, und selbst der Stock schmerzte.
    Die Altstadt war von den Bomben verschont worden. Hier standen die Häuser genauso ehrwürdig wie einst, wurzelten noch auf Erden, zürnten dem Himmel nicht, schienen zu schnurren wie Katzen in der Sonne, schau ten ein wenig verschlafen und besonnen aus den kleinen Guckfenstern unter den schrägen Schieferdächern hinab auf die winkligen Gassen hinter dem Rathaus und dem Tor der Hoffnung. Die Menschenmasse bewegte sich flüsternd im Schatten der alten Häuser und Frau Holle fragte sich: Ja, mein Gott, warum sonnen sich nur die Dächer? Warum liegen die Gäßchen im Schatten? Hat das was mit dem Schwarzmarkt zu tun? - Und das hier ... ja, mein Gott, ... das ist doch alles licht- und sonnen scheues Gesindel! Und was hab ich hier zu suchen? Wenn Günter das wüßte! Und wenn der Führer das wüßte! Die Menschenmasse sog Frau Holle auf, schub ste sie hin und her, schwemmte sie fort. Eine alte Frau neben ihr flüsterte: »Wollen Sie ein Paar Strümpfe? Oder eine Bratpfanne? Ich tausche auch Dollars! Kennen Sie vielleicht jemand, der einen Goldzahn hat? Oder sich einen ausbrechen will?« - Die Alte hatte ihren Arm gepackt und Frau Holle machte sich ärgerlich los. Sie dachte: Goldzähne? Ob ich mir einen ausbrechen will? Das hätte mir noch gefehlt! Aber du hast ja keinen. Und hungrig bist du. Aber du hast einen Ehering. Und der ist doch aus Gold! Und heiß ist es, verdammt noch mal. Aber wo ist denn die Sonne?
    Sie sah die alte Frau nicht mehr. Ihr war ganz wirr von den vielen Gesichtern, den vielen Stimmen, vom Hunger, von der stickigen Schwüle. Im Schatten eines Hauseingangs bemerkte sie eine Bäuerin mit einem rie sigen Strohkorb ... und einen gutgekleideten Mann. Die beiden tuschelten miteinander. Die Bäuerin holte Speck und Brot aus dem Korb und der Mann entblößte seinen Unterarm und zeigte der Bäuerin eine Kollektion von Armbanduhren. Mein Gott, dachte Frau Holle - so viele Uhren an einem Arm! So wie die gottverdammten Russen in Berlin! - Sie wollte stehenbleiben, um zu sehen, was sich da abspielen würde, wollte den Speck näher betrachten und das Brot und die Uhren, wurde aber gestoßen ... vorwärtsgestoßen ... auf dem Gehsteig ... und vom Gehsteig auf den Fahrweg ... und vom Fahrweg zurück

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