Der neue Herrscher
unaufhörlich wechselten sich Männer an den Schöpfeimern ab.
»Eineinhalb Tage?« fragte Odam. »Also morgen gegen Mittag oder später?«
»So rechnete ich«, meinte Sharnat ernsthaft. »Eher eine Stunde früher, wenn der Wind so stark bleibt.«
»Was wissen wir über Wahnhall?« erkundigte sich Necron und schickte den Schiffsjungen hinunter in die Kombüse, um heißen Würzweih mischen zu lassen.
»Nicht viel. Wahnhall ist eine Art dunkler Bruder von Vangas Land der Wilden Männer«, trug der Steuermann sein Wissen vor.!
»Gestrandete und deren Nachkommen, allesamt dem Wahnsinn verfallen, bevölkern die Ufer Wahnhalls«, murmelte Prinz Odam düster und rieb seine eiskalten Ohren.
»Wahnsinnig müssen sie sein«, grollte Sharnat und schüttelte sich, »denn, wie man gehört haben will, gehen sie einem mehr als eigenartigen Kult nach. Ich sprach einst mit Fischern, die dorthin verschlagen Wurden. Der Kult verlangt Menschenopfer, sagten sie, denn sie haben die Schreie der Gefolterten und Geschlachteten gehört.«
Kopfschüttelnd blickten sich Necron und Odam an.
»Ein feines Ziel haben wir uns ausgesucht!« sagte Necron und lachte sarkastisch. »Nun, gut – wir wissen es und sollten uns danach richten. Weiß noch jemand an Bord des Schiffes etwas über Wahnhall? Ich höre, daß unter Deck darüber gesprochen wird.«
»Sie haben zwei Götzen!« sagte der Schiffsjunge und teilte hölzerne Becher voll dampfenden Weines aus. »Exinn und Skyll.«
»Die gebieten also über die Wahnhaller?«
»So sagt man.«
Necron nahm einen Schluck und verbrannte sich fast Lippen und Zunge. Er hustete und stieß hervor:
»Ich sprach mit vielen Männern über die Hoffnungs-Inseln und Wahnhall. Sie alle sagten mir, daß Skyll und Exinn nichts anderes sind als zwei riesige Felspfeiler, tödliche Fallen für ein Schiff, zwischen denen hindurch die mächtige Inselströmung in die Schattenzone hineinrast.«
»Auch ich hörte in Ash’Caron, daß diese beiden Felspfeiler im Wasser, in der Strömung und im Sturm also, wie Bäume schwanken und hin und wieder zusammengeschlagen werden. Wehe dem Schiff, das zwischen die Steinpfeiler gerät.«
Schweigend tranken sie und starrten die Karte an, die mit Linien, Kreuzungspunkten, wirklichen und der Phantasie und der Furcht entsprungenen Darstellungen landschaftlicher Merkmale und Meerestiere übersät war.
»Wir haben keine andere Wahl«, entschied schließlich Necron. »Wir setzen das Schiff hier in der Trompetenbucht auf den Strand und versuchen, Wild, Wasser und Früchte zu finden, während die Zimmerleute arbeiten.«
»Es ist entschieden!« stimmte Prinz Odam zu und stürzte den Rest des heißen Weines hinunter.
Zehn Stunden lang und mehr kreuzte die Guinhan nach Südwest. Als das Schiff hoch über dem nördlichsten Vorsprung Wahnhalls vorbeisegelte – das Land war nur eine dunkle, kaum sichtbare Linie am südlichen Horizont –, packten die ersten Ausläufer der Strömung das Schiff. Zuerst schoben und zerrten Strömung und Wind das schlanke Schiff in dieselbe Richtung, dann gehorchte der Rumpf mehr dem Sog des Wassers als dem Segel und dem Ruder. Der Steuermann setzte dreimal zu einem Manöver an, das die Guinhan aus dem Bereich des unsichtbaren Sogs herausbringen sollte, aber seine Kunst vermochte nichts gegen die Naturgewalt auszurichten. Einige Stunden nach dem höchsten Stand der Sonne kam zum erstenmal an Backbord Land in Sicht. Kleine und große Vogelschwärme, die neugierig die Guinhan umflatterten, hatten die Nähe der Ufer bereits angekündigt.
Die Strömung hatte das Schiff fest in ihrem Griff.
Inzwischen sahen diejenigen unter der Schiffsbesatzung, die Erfahrung mit Sturm und Wellen hatten, die Zeichen der Meeresströmung. Dort, wo sie als breites Band die Landmasse umlief, reichte sie bis in große Tiefe hinunter. Die Wellen, die aus Westen heranrollten, flachten sich an dieser Stelle ab und markierten eine undeutliche Grenze. Das Wasser war tiefgrün, an einigen Stellen schimmerte es schwarz. Tote Fische und allerlei Treibgut drifteten mit der Guinhan zusammen nach Süd. Die Barriere der Schattenzone erhob sich als schwarzer Schemen am Horizont.
Wieder ein neues Segelmanöver!
Schwer schwang die Rah herüber. Der Wind kam von Steuerbord und blähte das dreieckige Segel. Die langen Wimpel knatterten scheinbar fröhlich und zum Abenteuer lockend. Die Geschwindigkeit des Schiffes nahm zu, und viele Männer fanden sich an Backbord ein, hielten sich an der Reling und
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