Der Novembermörder
Tag älter als vierzig aus. Zumindest nicht in dem Halbdunkel dieses Zimmers. Bevor sich Irene so weit gefasst hatte, um ihre Fragen zu wiederholen, beantwortete Sylvia sie selbst: »Nein, ich habe nicht die geringste Ahnung. Richard ist nie bedroht worden. Obwohl, es ist natürlich klar, dass große Geschäftsmänner sich immer irgendwelche Feinde machen.«
»Hätte er Ihnen etwas gesagt, wenn er von jemandem bedroht worden wäre?«
»Ja, das hätte er auf jeden Fall gemacht.«
Warum log sie? Irene bemerkte den heftigen Ruck im Nacken, der viel zu trotzig war, um zu überzeugen. Sie beschloss, das Thema lieber ein andermal wieder aufzugreifen. Stattdessen fragte sie: »Wann sind Sie nach Stockholm geflogen?«
»Am Sonntag, so gegen zwei Uhr.«
»Wo haben Sie in Stockholm gewohnt?«
»Im Hotel Plaza. Meine Mutter und Arja sind mit mir geflogen. Arja ist meine Schwester. Wir hatten Karten für die Vorstellung vom ›Cyrano‹ im Oscars für den Abend bestellt. Am nächsten Morgen haben meine Mutter und Arja dann die Fähre nach Helsinki genommen. Und ich bin ins Haus des Tanzes gegangen.«
»Das Haus des Tanzes, was ist das?«
»Kennen Sie das nicht? Das ist die Bühne in Stockholm, auf der alle Arten von Tanz aufgeführt werden. Sozusagen die Hochburg des Tanzes im Norden, so könnte man es bezeichnen. Sie wissen wohl, dass ich Choreografin bin. Das Haus des Tanzes hat nächstes Jahr fünfjähriges Jubiläum, und dann soll eines meiner Balletts aufgeführt werden. Das bedeutet natürlich Unmengen an Arbeit, aber es macht auch ungemein Spaß. Ich war im Herbst schon zweimal dort, um zu besprechen, wie ich mir das Ganze vorstelle. Und jetzt sind wir so weit, dass die Rollen besetzt werden können.«
Irene bemerkte, wie sich Sylvias Stimme veränderte, als sie vom Tanzen sprach. Das war eine echte Leidenschaft, das konnte man hören. Dass Sylvia Choreografin war, war Irene neu, aber es war wohl am klügsten, es nicht zu zeigen. Und von dem Haus des Tanzes hatte sie noch nie etwas gehört. Um das Thema zu wechseln, fragte sie: »Haben Sie mit Ihrem Mann am Montag oder Dienstag gesprochen?«
»Am Dienstag, gegen zwölf Uhr. Er war ja am Sonntag schon kurz davor, eine Erkältung zu kriegen, das wusste ich, aber richtig schlimm wurde es erst am Montag. Das hat er jedenfalls gesagt. Aber offenbar war es doch nur ein normaler Virus, denn am Dienstag fühlte er sich wieder gut. Er wollte mit Valle zu ihrem gemeinsamen Dienstagsessen gehen.«
»Valle? Meinen Sie damit Waldemar Reuter?«
»Ja, das habe ich doch gesagt! Die beiden essen seit über zwanzig Jahren jeden Dienstag zusammen zu Mittag.«
»Immer im gleichen Restaurant?«
»Nein, das wechselt immer mal. Das weiß ich nicht so genau.«
»Wie klang seine Stimme, als Sie miteinander sprachen?«
»Ganz genau wie immer. Nur ein bisschen müde und mit verstopfter Nase.«
»Was hat er gesagt? Können Sie sich daran erinnern?«
Sylvia schien eine Weile nachzudenken. Schließlich zuckte sie mit den Achseln und meinte uninteressiert: »Er hat mir von seiner Erkältung erzählt und dass er den ganzen Montag im Haus geblieben ist. Die Putzfrau war da gewesen und hatte nach dem Fest sauber gemacht. Sie hat wohl ihre Tochter dabeigehabt.«
»Wie heißt die Putzfrau?«
»Was hat denn das mit der ganzen Sache zu tun?«
»Sie kann etwas Wichtiges gesehen oder gehört haben. Alle, die in den letzten Tagen mit Ihrem Ehemann Kontakt gehabt hatten, müssen befragt werden.«
Sylvia kniff die Lippen zusammen, ließ sich aber schließlich doch herab und antwortete.
»Sie heißt Pirjo Larsson. Sie ist Finnin, verheiratet mit einem Schweden, redet aber ganz schlecht Schwedisch. Sie ist durch Empfehlung einer Freundin vor zwei Jahren zu mir gekommen. Nur die Finninnen können richtig sauber machen. Die Schwedinnen sind zu schlampig, und Chileninnen oder so haben zu wenig Ahnung«, stellte sie fest.
»Wie oft macht sie bei Ihnen sauber?«
»Dreimal in der Woche. Montags, mittwochs und freitags.«
»Wo wohnt sie?«
»Das weiß ich nicht. Ich glaube, in Angered. Ich habe ihre Telefonnummer zu Hause.«
»Sagte Ihr Mann noch was?«
»Ja ha, er wollte zwei Sandwichs kaufen, die wir abends essen wollten, wenn ich … wenn ich zurück wäre.«
Wieder senkte sie ihren Kopf. Die Achseln zitterten leicht, und für einen kurzen Moment hatte Irene fast das Gefühl, sie versuchte einen Lachanfall zu unterdrücken. Aber ihre trockenen, heiseren Schluchzer bezeugten das Gegenteil.
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