Der Novembermörder
Irene beschloss, dass es für diesmal genug war.
Sie machte einen Schritt auf Sylvia zu, spürte aber instinktiv, dass sie sie nicht anfassen durfte.
»Vielen Dank, dass Sie meine Fragen beantwortet haben. Ich werde morgen wieder zu Ihnen kommen. Aber ich rufe vorher an. Wenn Sie mit jemandem sprechen möchten, der an den Ermittlungen beteiligt ist, dann rufen Sie einfach diese Nummer hier an«, sagte Irene.
Sie streckte Sylvia eine Karte mit ihrer Durchwahlnummer hin. Als diese keine Notiz davon zu nehmen schien, schob sie sie vorsichtig zwischen ihre gefalteten Hände, die immer noch im Schoß lagen.
Als Irene sich umdrehte, um das Zimmer zu verlassen, hatte sie das Gefühl, als würden die Augen der alten, mumienähnlichen Frau aufglühen. Vor funkelndem Hass. Aber das konnte auch nur die Reflexion der Flurbeleuchtung sein, da die Tür gerade geöffnet wurde und eine Schwester mit dem Kaffee hereinkam.
Die Zeit bis zu ihrem Termin um fünf nutzte sie, um die Ergebnisse ihrer Gespräche von diesem Tag zu protokollieren. Von regelrechten Vernehmungen konnte noch keine Rede sein. Trotzdem war sie zufrieden mit dem Ergebnis. Sie hatten bereits eine ganze Menge Informationen, obwohl sie doch erst seit einem Tag dran waren. Das war der Vorteil, wenn man die Ermittlungen so schnell aufnehmen konnte. Verbargen sich der Mörder und das Motiv bereits in dem Material, das ihnen vorlag, und sahen sie es nur nicht? Oder waren sie noch Lichtjahre von der Wahrheit entfernt? Solange noch keine konkrete Spur zu sehen war, der sie hätte folgen können, war es das Beste, weiterhin hier und da zu bohren und zu graben. Dabei kam eigentlich immer irgendetwas Nützliches heraus.
Sie rief zu Hause an. Krister war am Apparat. Er war gerade erst hereingekommen, erzählte aber, dass Katarina schon zu ihrem Ju-Ju-Training los war und Jenny mit Sammie draußen herumlief.
»Ich werde mit Jenny heute Abend reden und versuchen, etwas über diese ›White Killers‹ rauszukriegen. Im Augenblick lese ich über deine Arbeit in den Abendzeitungen. ›Von Knecht ERMORDET!‹ schreien alle Schlagzeilen. Anscheinend haben sie im ganzen Land die Druckpressen angehalten und die ersten Seiten, die heute Morgen schon gedruckt waren, ausgetauscht«, erzählte er.
Irene seufzte. Immer dieses schlechte Gewissen, weil sie das Gefühl hatte, Krister organisiere das meiste daheim. Aber gleichzeitig war sie auch sehr dankbar, dass er die Sache mit Jenny übernahm. Müde sagte sie: »Wir haben um fünf Uhr eine gemeinsame Besprechung. Das heißt – jetzt. Ich muss mich beeilen. Ich bin bestimmt nicht vor neun zu Hause. Küsschen, Küsschen!«
Letzteres hatte sie aus einer Fernsehserie geklaut. Wie süß. Bevor sie sich zum Konferenzraum aufmachte, zog sie einen jungfräulichen Collegeblock aus der Schreibtischschublade. Auf das Deckblatt schrieb sie mit schwarzem Edding »von Knecht«. Sie schlug auf die erste Seite um und schrieb sauber auf die erste Zeile »Pizza«.
Sie kam als Letzte, aber die anderen hatten noch nicht angefangen. Sie ließ die Pizzaliste herumgehen, und alle, die wollten, schrieben ihren Namen und den der gewünschten Pizza auf. Leichtbier und Salat inklusive. Die Liste wurde einer Sekretärin übergeben, die das Gewünschte bestellen sollte, sodass es um sechs Uhr bei der Zentralwache abgeliefert wurde.
Andersson ging durch, was die Pathologin und die Jungs von der Spurensicherung an diesem Tag herausgefunden hatten. Das einzig Neue für Irene war, dass Ivan Viktors nicht erreicht worden war. Andersson hatte eine Nachricht in seinem Briefkasten und eine Mitteilung auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.
Tommy Perssons, Hans Borgs und Fredrik Stridhs Befragungen in den Straßen um den Tatort herum waren im Großen und Ganzen negativ ausgefallen. Das einzig Positive, wenn auch deutlich infrage zu Stellende, war die Aussage einer pensionierten Lehrerin. Sie war einundachtzig Jahre alt und fast blind. »Und deshalb ist mein Gehör auf meine alten Tage umso besser«, hatte sie behauptet. Fredrik Stridh war davon nicht überzeugt, erzählte aber, was sie ihm gesagt hatte: »Sie behauptet, gehört zu haben, dass die Tür zu dem äußeren Müllraum zufiel, nachdem die letzten Polizeisirenen verklungen waren. Das würde also bedeuten fünfzehn Minuten vor sechs, denn zu dem Zeitpunkt ist der letzte Krankenwagen eingetroffen.«
Der Kommissar warf eine Frage ein: »Woher weiß sie, dass es die Tür zum äußeren Müllraum
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