Der Novembermörder
deutliche Beunruhigung zu lesen. Er streckte die Hand vor, gab ihr einen schmerzhaften festen Handdruck und stellte sich vor. Mit einem Nicken bat er sie, ihm in sein Zimmer zu folgen. Deutlich bewegt sagte er: »Wenn Sie entschuldigen: Ich habe einen Patienten auf dem Stuhl. Deshalb darf das nicht zu lange dauern. Was haben Sie Mia gesagt: Richard ist ermordet worden? Das ist doch unmöglich! Obwohl ein Selbstmord eigentlich genauso unmöglich ist. Wissen Sie genau, dass er ermordet wurde?«
»Ja, ganz sicher. Er wurde bewusstlos geschlagen und über den Balkon geworfen«, antwortete Irene.
Schweigen. Tosse schloss nur die Augen und nickte.
»So weit wir erfahren haben, waren Richard von Knecht und Sie gute Freunde«, fuhr Irene fort.
»Wer hat das gesagt?«
»Die Gerichtsmedizinerin Yvonne Stridner.«
»Ach so, Yvonne. Dann hat sie sicher auch erzählt, dass Sylvia und ich verlobt waren, bevor sie Richard kennen lernte. Das war hart damals, aber er war nun mal eine bessere Partie als ich. Aber ich habe Inga, meine erste Frau, nur wenige Monate später kennen gelernt, und da haben wir Frieden geschlossen. Wir waren auf ihrer Hochzeit und sie waren auf unserer.«
Irene kam ein Gedanke.
»Waren Sie auch auf dem Fest am Samstag?«, fragte sie.
»Ja, natürlich. Aber Inga war natürlich nicht dabei, wir haben uns vor mehr als zwanzig Jahren scheiden lassen. Ann-Marie, meine jetzige Frau, war mit.«
»Waren alle aus der alten Gruppe auf dem Fest?«
»Ja. Aber nicht alle, die bei der Hochzeit dabei waren. Bei der Hochzeit waren wir mehr als hundert Gäste. Am Samstag waren wir vielleicht so um die zwanzig.«
»Waren die, die in Frankreich leben, auch da?«
»Ja. Peder und Ulla Wahl. Ulla ist meine Schwester. Sie haben es damit verbunden, ihr neues Enkelkind zu sehen. Aber am Montag sind sie schon wieder zurück in die Provence gefahren.«
»Hatten Sie den Eindruck, dass Richard von Knecht wie immer war?«
Tosse dachte lange nach, bevor er antwortete: »Ja, er war ganz genau wie immer. Fröhlich und aufgekratzt. Er liebte Feste. Das war ein tolles Fest. Die Einzigen, die bedrückt wirkten, das waren Henrik und seine Frau. Vielleicht fühlten sie sich nicht wohl unter den ganzen Alten.«
»Und Sylvia von Knecht?«
»Genau wie immer. Aber sie ist nun mal ein wenig … eigen.«
Er verstummte. Bevor Irene eine weitere Frage stellen konnte, streckte er ihr wieder die Hand entgegen und schüttelte diese in einem weiteren Schraubzwingengriff.
»Nun muss ich aber zurück zu meinem Patienten. Fassen Sie den Mörder. Denn niemandem ist zu gönnen, Opfer eines Mörders zu werden. Nicht einmal Richard«, sagte er schnell.
Irene kam nicht mehr dazu, ihn um eine Erklärung zu bitten, wie er den letzten Satz denn gemeint hatte, da war er bereits durch die Tür verschwunden. Irene massierte ihre rechte Hand. Zahnärzte haben starke Handmuskeln.
Die schöne Mia lotste sie zum Ausgang. Vom anderen Ende des Flurs hörte sie wieder das Aufjaulen des Bohrers.
Draußen war der Nieselregen in eine kühle Brise mit vereinzelten Schneeflocken übergegangen.
Null Grad in einem windigen, kalten Göteborg fühlen sich an wie minus zwanzig Grad in Kiruna. Wenn nicht noch kälter. Irene schob ihr Kinn in den Jackenausschnitt.
Sie würde etwas zu spät zu ihrer Verabredung mit Sylvia von Knecht kommen, aber insgesamt war sie mit ihrem Geschick, ihren Zeitplan einzuhalten, ganz zufrieden.
Die Uhr zeigte Viertel nach drei, als sie durch die Glastür zur Abteilung 4 der Psychiatrie ging. Der Flur war vollkommen leer. Die Wände waren mit einer schmutzig gelben Farbe bemalt, und der Boden mit grauem Linoleum belegt. Ein Schild mit der Aufschrift »Schwesternbüro« war weiter hinten zu sehen. Dort fand sie eine weiß gekleidete Schwester um die fünfzig hinter einem Schreibtisch. Mit verträumtem Blick starrte sie auf einen Computerbildschirm. Irene räusperte sich leise.
»Entschuldigung. Wo finde ich Sylvia von Knecht? Ich bin Inspektorin Irene Huss.«
Die Schwester zuckte zusammen, wandte sich Irene zu und warf ihr einen irritierten Blick zu. Spitz sagte sie: »Ja, das möchte ich auch gern wissen. Wo ist Sylvia von Knecht? Und wo sind all die anderen Patienten?«
Hatte es eine Massenflucht aus der Psychiatrie gegeben? Oder war das hier eine der Patientinnen, die sich einen weißen Kittel besorgt hatte und nun vor dem Computer saß? Die Computerfrau wandte sich wieder dem Bildschirm zu.
»Es ist doch zum Haareraufen! Mir ist
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