Der Orksammler
Aber für mein ungeschultes Laienauge sieht das ganz verdächtig nach einem Krallenbruchstück aus«, erklärte Meister Lemuel überflüssigerweise.
»Quintessenziell, lieber Freund.« Langsam öffnete Hippolit wieder die Augen. Zusätzlich zu seiner Abneigung gegen den kleinen Heiler begann sich in seinem Inneren allmählich eine mindestens ebenso starke Abneigung gegen den gesamten Fall zu manifestieren. Einen Fall, bei dem bisher nichts zusammenzupassen schien.
»Ich denke, für heute genügt es«, verkündete er tonlos und legte die Klaue behutsam in eine Porzellanschale neben der Bahre. »Morgen früh werde ich verschiedene Tests an diesem … Objekt vornehmen. Dazu muss ich wohl oder übel erneut Ihre Zeit und Ihre Ausrüstung in Anspruch nehmen, Meister Lemuel. Ich werde destilliertes Wasser benötigen, ein Dutzend abgekochte …«
Ein fragendes Hüsteln unterbrach ihn mitten im Satz. »Ich dachte, Sie wollten sich alle Toten ansehen?«
Hippolit massierte mit den Fingerspitzen seine wütend pochende Schläfe. »Das habe ich getan: Zehn Orks verschwanden. Sieben tauchten ohne Herz wieder auf. An allen sieben nahm ich eine Signaturprüfung vor. Einen habe ich zusätzlich obduziert.« Er seufzte. »Ich denke, das reicht für eine Nacht.«
Meister Lemuel zuckte demonstrativ die Achseln. »Wie Sie meinen. Dann sehen Sie sich den achten Toten eben morgen an.«
Hippolits Augen verengten sich abrupt. »Den achten Toten? General Ortlov sprach von sieben!«
Der Stabsarzt nickte zustimmend. Seinem triumphierenden Hüsteln war allerdings zu entnehmen, wie sehr er es genoss, nach Hippolits Standpauke wieder Oberwasser zu bekommen. »Sieben Orks. Und er dort!« Er wies auf eine achte Klappliege in der hinteren Hälfte des Zeltes, die Hippolit bislang nicht zur Kenntnis genommen hatte. Erst jetzt sah er, dass auch auf ihr ein von einem Leinentuch bedeckter Körper lag.
Wortlos ging er hinüber und riss den Stoff mit einem Ruck beiseite.
»Aber das ist kein Ork. Das ist ein Mensch!«
Meister Lemuel hüstelte arrogant. Er war an einen Tisch an der Längsseite des Zeltes getreten und hatte die Hand auf den Deckel eines runden Behälters gelegt, der wie ein zu groß geratener Honigtiegel aussah. »Und das hier können Sie sich dann ja auch morgen in aller Ruhe näher betrachten.« Grinsend fügte er hinzu: »Einer der Suchtrupps hat es gefunden, nur ein paar Fußminuten nördlich des Lagers, wo es achtlos in einem Dornbusch baumelte.«
Zögernd näherte sich Hippolit dem kleinen Mann, der mit raschen Worten die Stasis deaktivierte, die er über dem Gefäß verhängt hatte. Er hob den Deckel und neigte den Topf zur Seite, um Hippolit einen besseren Bück auf den Inhalt zu gewähren.
Der Tiegel war zur Hälfte mit destilliertem Wasser gefüllt, eine gängige Methode, um die Wirkung eines Konservierungsspruches auf leicht verderbliches Gewebe zu verstärken. In der Flüssigkeit dümpelte ein unförmiges Objekt von der Größe zweier Männerfäuste.
Hippolit kniff die Augen zusammen, sah genauer hin.
Als er erkannte, worum es sich handelte, war er so überrascht, dass für einen Moment sogar das Pochen an seiner Schläfe aussetzte.
In dem Tiegel schwamm ein Herz!
6
»Ich will es mal so ausdrücken, Großer, wenn du so nachhaltig fragst und einfach nicht imstande bist, deine Klappe zu halten, bei Ubalthes: Vielleicht ist es ja so, wie ich bereits angedeutet habe. Vielleicht haben die grünen Frösche verdient, was ihnen derzeit widerfährt.«
»Was Kiemwhey sagen möchte«, schaltete sich der zweite Mann auf der anderen Seite des Feuers in das Gespräch ein, »ist Folgendes: Die Grünen müssen aufpassen, wie sie sich verhalten, sonst passieren … Dinge. Dinge von genau der Art, wie sie hier seit einem Zenit abgehen. Natürlich tragen sie daran selbst die Schuld.« Der zweite Sprecher – er war kleiner als Kiemwhey – lächelte breit. Es war ein erregtes Lächeln, wie man es bei einem guten Mann sah, der zeigen wollte, was ihn zu einem guten Mann machte. Aber er war kein guter Mann, das sah Jorge auf den ersten Blick.
Kiemwhey nickte heftig. »Ysil spricht weise«, sagte er und trank einen großen Schluck Bier. Das blonde Haar hatte er zu einem Zopf gebunden, der ihm bis hinunter zum Steißbein reichte. Sein Gesicht wirkte aufgeschwemmt, voller Mitesser, ungesund und weiß wie eine Dampfnudel. Obwohl Soldat des lyktischen Berufsheeres, war er sichtlich nicht in Form. Er wandte sich an Jorge, der neben
Weitere Kostenlose Bücher