Der Orksammler
Hippolit.
Das Mädchen sah ihn aus halb geschlossenen Augen an, auf eine Weise, die er nicht einzuschätzen wusste, und massierte mit Hingabe weiter.
Hippolit spürte, wie sich eine angenehme Wärme in seiner Brust zusammenballte. Und nicht nur dort! Auf einem Stuhl in der Nähe des Bettes erspähte er sein Gewand, gesäubert und ordentlich zusammengelegt. Ihm wurde klar, dass es an ihm war zu entscheiden, in welche Richtung die Situation sich weiter entwickeln sollte.
Mach dich nicht lächerlich!, warnte eine Stimme in seinem Kopf, die entfernt wie die des seligen Meister Merthin klang.
Das Mädchen ist hilfsbereit und ein bisschen naiv, das ist alles. Kleide dich jetzt an und spute dich. Du hast eine Ermittlung zu leiten!
Pflichtschuldig wollte Hippolit die nüchterne Eingebung in die Tat umsetzen, als plötzlich eine weitere Stimme hinter seiner Stirn ertönte. Sie klang verdächtig nach der von Jorge.
Die Kleine ist rattig auf dich, M.H., das riecht ein nasenloser Zwelch neun Meilen gegen den Wind -falls es so was gibt. Du wärst ein Narr und ein Feigling, wenn du die Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließest!
Hippolit war verwirrt. Zu lange, dreißig Jahre oder mehr, hatten Empfindungen wie der Wunsch nach Zweisamkeit oder gar körperliches Verlangen in den Tiefen eines nahezu funktionsuntüchtigen Greisenkörpers verschüttet gelegen. Die Erinnerung, wie man in Fällen wie diesem vorzugehen hatte, ohne eine Ohrfeige oder Schlimmeres zu riskieren, war fern und verschwommen. Gab es nicht gewisse diplomatische Wendungen, mit denen man das Terrain abstecken konnte, ohne im Falle einer Abweisung gleich wie ein Vollidiot dazustehen?
»Sagen Sie, mein Kind«, hob er vorsichtig die Stimme. »Gibt es … nun, gibt es eigentlich einen Mann in Ihrem Leben?«
Er lobte sich bereits stumm für seine Subtilität, da spürte er, wie sich Liths Hände auf seiner Brust verkrampften. Als käme ihr seine fragwürdige Physiognomie erst jetzt zu Bewusstsein, zog sie abrupt die Arme fort, stand vom Bett auf und machte einige Schritte ins Zimmer hinein, so rasch, dass Hippolit nicht einmal mehr einen Blick auf ihr goldumwalltes Gesicht erhaschen konnte.
Idiot, sagte die Stimme von Meister Merthin.
Idiot, sagte die Stimme Jorges.
»Ich … es tut mir leid, wenn ich Sie … Lith, hören Sie, ich wollte nicht …«
Das Mädchen war unter dem großen Dachfenster stehen geblieben und starrte schweigend hinauf zum abendlichen Himmel. Undeutlich waren dort Sterne zu erahnen, nicht mehr als verwaschene Lichtpunkte vor dem beigebraunen Schimmer der Ewigen Flamme.
Ungelenk raffte Hippolit das Bettlaken um seine hagere Gestalt und stolperte zum Stuhl mit seinen Sachen hinüber. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe«, murmelte er, während er sein Gewand überstreifte und mit unauffälligen Handgriffen prüfte, ob sich seine Amulette und sonstigen thaumaturgischen Artefakte noch in den diversen Innentaschen befanden. »Ohne Sie wäre es mir da draußen in der Gasse schlecht ergangen. Vielleicht findet sich ja eine Gelegenheit, bei der ich Ihnen Ihren mutigen Einsatz vergelten kann?«
Das Mädchen gab keine Antwort.
Hippolit trat zur einzigen Tür der Dachkammer, stammelte eine letzte Abschiedsfloskel und trat hinaus in ein dämmriges Treppenhaus. Wie es aussah, würde er sich über Meister Wylfgungs gewitzten Plan hinwegsetzen und das Stadtarchiv alleine aufsuchen müssen.
Auf der Treppe versuchte er, sowohl das zweistimmige Gelächter in seinem Kopf als auch das schamhafte Pochen an seiner linken Schläfe zu ignorieren, und fragte sich, was, bei Lorgon, er falsch gemacht hatte.
19
Die Finsternis ist aus Toniem geflohen. Der grässliche Mond und die Ewige Flamme haben sie vertrieben, in Bereiche zurückgedrängt, wo seit Jahrhunderten keine lebende Seele mehr gewandelt ist.
Jetzt wandelt dort jemand.
Ein Tor, dick, rostig. Die Scharniere schreien, als er sich mit der Schulter dagegenlehnt, den schwarzen Stahl aufdrückt, bis sein immenser Leib hindurchpasst. Doch niemand hört es.
Zu tief.
Ersetzt einen Fuß auf die alte Treppe, die sich wie ein tausendfach gedrehtes Widderhorn zur Oberfläche emporwindet.
Ein Schritt, dann ein weiterer. Jeder identisch in Länge und Geschwindigkeit. Die Natur ist zyklisch angelegt.
Seine Schritte: Einer folgt dem anderen.
Seine Botengänge: Einer folgt dem anderen.
Das Sterben: Eine Seele folgt der anderen.
Er versteht nicht, wieso sich alles wiederholt. Er will es nicht
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