Der Orksammler
manche zahnlos, andere völlig intakt.
Erschrocken zog Jorge die Hand von dem porösen Stein zu seiner Linken fort.
Denn es war kein Stein. Der Stein hatte Augenhöhlen. Und Zähne!
»Blaak«, flüsterte er und taumelte vorwärts.
Ein knirschendes Geräusch unter seinen Füßen. Als er hinabblickte, erkannte er, dass der gesamte Boden der Höhle mit Bruchstücken von Knochen übersät war. Bei jedem Schritt gaben weiße Splitter unter seinem Gewicht nach, brachen mit nervzerreißendem Knacken.
Beinahe ehrfürchtig näherte sich Jorge dem Knochenberg. Kurz überlegte er, ob er sich nicht lieber zurück durch den schmalen Gang quetschen und Hippolit verständigen sollte. Dies hier würde ihn sicherlich interessieren. So etwas hatte selbst der weitgereiste M.H. noch nicht gesehen!
»Bei Batardos!«, flüsterte Jorge zum dritten Mal. »Das … das …«
Wieder musste er schlucken. Wieder streckte Pompom ihr rosafarbenes Faltengesicht ins Freie.
»Ich hab’s dir schon einmal gesagt, Kleines: Bleib, wo du bist!« Sanft schob Jorge die Vulvatte unter seine Kleidung zurück. »Das hier ist nichts für kleine Nacktärsche.«
Jorge hätte gern ein Trollsprichwort zum Besten gegeben, um Pompom und sich selbst zu beruhigen. Aber bei diesem verstörenden Anblick fiel ihm keines ein.
Ein Friedhof unter der Friedhofsstadt – damit hatte er fürwahr nicht gerechnet.
Vorsichtig setzte er einen Schritt vor den anderen. Das Knirschen unter seinen Sohlen hallte endlos unter der hohen Decke wider. Wäre Hippolit hier gewesen, hätte er ihn vielleicht mit einem thaumaturgischen Trick schweben lassen können. Aber Hippolit war nicht hier – wie immer, wenn man ihn brauchte!
Am Fuß des Berges hielt Jorge an.
Aus der Nähe wirkte das Gebilde noch monumentaler. Jorge vermochte den Gipfel nicht mehr zu erkennen. Die ineinander verkeilten Knochen erinnerten an eine undurchdringbar verwachsene Dornenhecke. Moos und Flechten wucherten über allem, überzogen die Gerippe, machten sie porös und morsch. Jorge argwöhnte, dass sie bei der geringsten Berührung zu Staub zerfallen könnten.
»Wo kommen die nur alle her?«, flüsterte er. »Ich meine, die Toten von Torrlem wurden doch seit jeher verbrannt, bei Batardos. Ob man die hier irgendwann einfach hier unten vergessen hat?«
Ein einzelner Totenschädel löste sich, rollte klackernd die steile Anhöhe herab und prallte dicht neben Jorge auf den Boden, wo er zu weißem Pulver zerstob.
Ein Knirschen drang aus der knöchernen Wand. Es war, als säße etwas Lebendiges irgendwo unter all den Gebeinen, etwas, das nun versuchte, sich nach draußen vorzuarbeiten. Jorge machte instinktiv einen Schritt rückwärts. Doch es war bereits zu spät.
Er hatte den Schatten vergessen!
Der Anblick Abertausender Gerippe hatte ihn derart in seinen Bann geschlagen, dass dem Kerl, den er Augenblicke zuvor noch verfolgt hatte, Zeit geblieben war, sich um die gigantische Ansammlung menschlicher Überreste herumzuschleichen und sie irgendwie in Bewegung zu versetzen. Innerhalb eines Sekundenbruchteils geriet der ganze Hang ins Rutschen, donnerte auf Jorge zu wie eine Schneelawine. Nur bestand dieser Schnee aus Knochen, Schädeln und Teilen menschlicher Gerippe!
»BLAAK!«
Jorge wirbelte herum, stolperte über seine eigenen Füße, verlor die Balance und schlug der Länge nach hin. Knochensplitter bohrten sich in seine Handflächen, in seine Wangen, gerieten ihm in den Mund. Er versuchte vorwärtszukriechen, doch seine Finger fanden nichts, woran sie sich hätten festhalten können. Ein Schädel, den sie ergriffen, brach in der Mitte entzwei. Von Karies zerfressene Zähne bissen ihm in die Handfläche.
Über ihm ertönte ein Geräusch wie von nahendem Donner.
Jorges letzter klarer Gedanke war: M.H. wird meine Leiche nie und nimmer finden. Nicht unter all diesen Toten!
Jorge fand das weniger erschreckend, eher bedauerlich. Instinktiv fuhr er mit einer Hand unter seine Jacke, wo sich Pompom ängstlich an seine Brust drückte. Auch sie würde sterben. Das ärgerte Jorge. Pompom hatte es nicht verdient, auf diese Weise aus dem Leben zu scheiden! Sie gehörte ja nicht einmal wirklich zum IAIT. Im Grunde hatte sie hier, tief unter der Erde, nicht das Geringste verloren. Warum, bei Batardos, hatte er sie mitgeschleppt?
Das Donnern war jetzt direkt hinter ihm. Ein unfassbar großer Schatten verdunkelte das grüne Gummen von der Decke. Rechts und links von Jorge schlugen Knochen ein wie Speere, spitz und
Weitere Kostenlose Bücher