Der Orksammler
tödlich.
Der Berg neigte sich, das Donnern wurde zu einem Brüllen. Jorge gab seine Versuche auf, über die Knochensplitter davonzurobben. Er schloss die Augen.
Und dann schwappte das Totengebirge wie eine gigantische Welle über ihn hinweg. Abertausende Zentner Knochen stürzten über Jorge zusammen, Gebeine regneten auf seinen Leib herab, trotz ihres Alters und ihrer Zerbrechlichkeit scharfkantig und schwer. Knochenmehl geriet ihm in den Mund und in die Luftröhre, Arm- und Beinknochen prasselten auf seine Arme und Beine, Schädel explodierten auf seinem eigenen zu weißen Staubwolken. Er wurde lebendig begraben, Schicht um Schicht, während die gigantische Halle in dichten Nebel getaucht wurde.
Die Toten waren ein letztes Mal erwacht, für einen kurzen Augenblick, und sie verursachten einen Höllenlärm, während sie ihr Opfer verschlangen. Aber davon bekam Jorge längst nichts mehr mit.
28
»Und wann hatten Sie vor, uns von den denkwürdigen Vorgängen in der Unterwelt Torrlems in Kenntnis zu setzen, Meister Wylfgung? Morgen? Nächsten Zenit? Oder erst nach unserer Abreise gen Nophelet, in Form eines höflichen Wortwurfs? Was bilden Sie sich eigentlich ein, weswegen wir hier sind? Ich komme hierher, in Ihren verdammten Turm, und erkläre Ihnen, dass wir auf der Suche nach einer mörderischen Kreatur sind, die sich möglicherweise in den Katakomben unter Ihrer Stadt versteckt hält. Und anstatt mich sofort auf das rätselhafte Verschwinden einer halben Million Toter just aus diesen Katakomben hinzuweisen, schicken Sie mich seelenruhig mit Ihrer Sekretärin in Ihr verstaubtes Archiv! Sind Sie noch ganz bei Trost, Mann?«
Hippolit hasste seinen unreifen Körper dafür, dass er selbst in Situationen wie dieser, wenn er innerlich kochte und seiner Wut verbal Ausdruck zu verleihen suchte, kaum mehr als ein dünnes Nörgeln zustandebrachte. Schlimmer noch: In Zuständen großer Erregung tendierte sein kippeliges Falsett zu einem armseligen Kieksen. Immer wieder musste er kurze Sprechpausen einlegen, um zu verhindern, dass er zu krächzen begann wie eine waidwunde Krähe.
Nichtsdestotrotz schien Meister Wylfgung, dem Obersten Verwalter Torrlems, die bedrohliche Gemütsverfassung seines Besuchers nicht entgangen zu sein. Der ziegenbärtige Mann hockte zusammengesunken hinter seinem Schreibtisch, den Blick seiner aufgerissenen Augen auf den tobenden Vierzehnjährigen gerichtet, der wenige Augenblicke zuvor, ohne anzuklopfen, in sein Büro gestürmt war.
»Ich gebe zu … es war vielleicht ein wenig nachlässig von mir«, stotterte Wylfgung händeringend. »Aber ich flehe Sie an, Meister Hippolit: Mäßigen Sie Ihre Lautstärke!« Er erhob sich, huschte zur Vorzimmertür hinüber, die nach Hippolits unerwartetem Eindringen noch halb offen stand, und schloss sie sorgfältig. Als er zum Schreibtisch zurückkehrte, vollführte er mit der Rechten eine winkende Geste. Das altgediente Tablett mit Portwein schwebte herbei. »Lassen Sie uns wie erwachsene Menschen über die Sache reden«, schlug er mit versöhnlichem Nicken vor. »Gewiss werden Sie dann verstehen, dass ich …«
»Halten Sie die Luft an!« Hippolit, der das Angebot, wie erwachsene Menschen über die Sache zu reden, als plumpe und beleidigende Anspielung auf sein Äußeres empfand, machte eine unwirsche Handbewegung, verbunden mit einem gemurmelten thaumaturgischen Befehl.
Der Beschleuniger packte die Portweinkaraffe und schleuderte sie gegen die rückwärtige Wand des Büros. Sie zischte haarscharf an Wylfgungs Kopf vorbei und explodierte in einer Wolke aus rotem Wein und silbrigen Glassplittern.
»Mein Assistent liegt wegen Ihrer Nachlässigkeit im Klinikum, ich selbst habe mich in Unkenntnis der Sachlage in Lebensgefahr begeben«, blaffte Hippolit. »Wir könnten beide tot sein. Niemand anders als Sie hätte dann zwei hochrangige IAIT-Beamte auf dem Gewissen gehabt, Meister Wylfgung!«
Der Verwalter umrundete gesenkten Hauptes den Schreibtisch. Glas knirschte unter seinen Sohlen, bevor er sich schwer in seinen Lehnstuhl fallen ließ. »Sie haben ja recht! Ich habe einen Fehler gemacht.« Er starrte seine ineinander verkrampften Finger an, als könnten sie ihm einen Ausweg aus seinem Dilemma weisen. »Ich weiß selbst nicht, was ich mir gedacht habe …
Sehen Sie, ich erhalte hier, am Ende der Welt, nicht allzu häufig Besuch von Staatsbeamten in dienstlicher Mission. Als Sie dann vor mir standen, ein berühmter Meisterermittler des IAIT …
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