Der Palast
vor Reikos innerem Auge. Das Schluchzen, das sie hörte, stammte entweder von Keisho-in, Midori oder Fürstin Yanagisawa. Sie alle waren immer noch Gefangene von Männern, die unvorstellbare Grausamkeiten begangen hatten.
Hass und ohnmächtige Wut explodierten in Reikos Innerem. Sie wollte schreien, wollte um sich schlagen, bezähmte sich aber. Sie hätte nur ihre Kräfte vergeudet. Also versuchte sie, kühl und vernünftig zu denken, auch wenn ihr Hirn noch immer umnebelt war. Sie musste ihren Verstand und all ihr Wissen und Können einsetzen, so gut sie es in ihrer Lage vermochte; sie musste ihr Entsetzen bezwingen und stattdessen auf alles achten, was für ihr Überleben von Nutzen sein konnte.
Zuerst richtete Reiko ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst. Seile waren um ihren Körper geschlungen und hinderten sie an jeder Bewegung. Der Stoff, den sie auf dem Gesicht spürte, war die schwarze Kapuze, die die Entführer ihr über den Kopf gezogen hatten. Und was in ihrem Mund steckte, war ein Knebel aus grober Baumwolle. Ihre Übelkeit und die hämmernden Kopfschmerzen führte Reiko auf die Wirkung des Opiums zurück, das die Männer ihr eingeflößt hatten. Ansonsten schien sie unverletzt zu sein. Die Steifheit ihrer Muskeln und der Harndrang, den sie verspürte, deuteten darauf hin, dass sie lange Zeit geschlafen hatte – was darauf schließen ließ, dass sie bereits ein ziemliches Wegstück zurückgelegt hatte und wahrscheinlich schon weit von der Stelle des Überfalls entfernt war, außerhalb der Reichweite möglicher Helfer, die vielleicht schon nach ihr und den anderen Frauen suchten.
Oder wusste noch niemand, was geschehen war? Würde sie sterben, bevor Retter erschienen?
Neuerliches Entsetzen erfasste Reiko und vermischte sich mit einer solch schmerzlichen Sehnsucht nach Sano und Masahiro, dass sie beinahe in Tränen ausgebrochen wäre. Doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Umgebung.
Durch den dicken Stoff der Kapuze hörte sie das Geräusch von Schritten auf trockenem Laub. Zweige knackten. Gras raschelte. Männer atmeten keuchend. Die Laute vermischten sich mit dem unablässigen Zirpen der Grillen und dem Rauschen von Blättern, mit denen der Wind spielte. Eulen stießen ihre gespenstischen Rufe aus. Ein Stück voraus hörte Reiko das röchelnde Husten von Keisho-in und das Schluchzen Midoris. Wo Fürstin Yanagisawa sich befand, konnte sie nicht sagen. Sie spürte, wie Zweige an ihrer Kleidung zupften. Die Luft war kalt und feucht, und Stechmücken summten um sie her. Bald darauf stieg ihr Rauch in die Nase, der nach Fichtenholz roch.
Aus all diesen Eindrücken und Empfindungen versuchte Reiko sich ein Bild von dem zu machen, was gerade geschah: Ihre Entführer trugen sie und die anderen Frauen durch einen nächtlichen Wald, der vom Fackellicht erhellt wurde. Reiko stellte sich eine endlos lange Reihe maskierter Gestalten vor, die in gespenstischem Schweigen durch die Nacht marschierten …
Plötzlich wurden die Schritte langsamer, und bald endeten die Bewegungen. In der kurzen Stille, die nun folgte, hörte Reiko, wie eine Tür sich quietschend öffnete. Dann setzten die Bewegungen wieder ein, doch Reikos Umgebung veränderte sich: Die Geräusche des Waldes wurden leiser, und die Schritte bewegten sich über einen steinernen Untergrund und schienen von Wänden widerzuhallen. Kein Windhauch rührte sich mehr, und die unbewegte Luft wurde wärmer und roch muffig. Die Männer hatten offenbar ein Gebäude betreten.
Nachdem die Tür sich mit einem dumpfen Laut geschlossen hatte, kippten die Männer, die Reiko trugen, deren Körper nach hinten. Die plötzliche Verlagerung ließ so heftige Übelkeit in ihr aufsteigen, dass sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Reiko erkannte, dass sie eine Treppe hinaufgetragen wurde, deren hölzerne Stufen unter dem Gewicht der Männer knarrten und ächzten. Von irgendwo hoch oben hörte Reiko das Gurren von Tauben, die aufgeschreckt wurden, und das leise Flattern von Fledermausflügeln. Ansonsten war es gespenstisch ruhig; die Männer blieben stumm. In Reiko stieg das Bild eines Turmverlieses auf, und sie erschauderte.
Die Männer erreichten einen Absatz; dann ging es eine weitere Treppe hinauf, und dann noch eine. Schließlich gelangten sie in einen Raum, in dem sich bereits jene Verbrecher drängten, die Reikos Gefährtinnen hierher verschleppt hatten, wie das dumpfe Stöhnen der geknebelten Frauen sowie die Schritte und
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