Der Palast
heraus.«
Doch Reiko wusste, dass ihre Erfolge in der Vergangenheit auf dem Einsatz von Waffen beruhten, auf Bewegungsfreiheit, auf dem Zugang zu Informationen, auf den Möglichkeiten Sanos und seiner Ermittler sowie auf der Macht des Tokugawa-Regimes – und nichts von alledem besaß sie jetzt. Unbewaffnet und gefangen hatte Reiko keine Möglichkeit, ihren Freundinnen zu helfen. Dennoch – Entschlossenheit und Pflichtgefühl trieben sie an, es wenigstens zu versuchen. »Ihr müsst nur Ruhe bewahren, ich bringe uns schon hier raus«, sagte sie mit vorgetäuschter Zuversicht.
Keisho-in kauerte sich auf den Boden, verschränkte die Arme und wartete; Midoris Tränen verebbten. Fürstin Yanagisawa drehte sich im Kreis, wobei sie wirre Blicke durch den Raum warf, während sie nach ihrer Tochter suchte. Das Rauschen der Wellen tief unter ihnen war das einzige Geräusch in der lastenden Stille. Schließlich ging Reiko zur Tür und stemmte die Schulter gegen das raue Holz, doch ihre Anstrengungen bewirkten lediglich, dass die eisernen Riegel auf der anderen Seite der Tür leise klirrten. Reiko tastete mit den Fingern nach Spalten und Rissen an den Rändern und am Rahmen, jedoch vergeblich. Schließlich ging sie zu den Fenstern und sah, dass die Läden festgenagelt waren. Sie schob die Finger in den schmalen Spalt zwischen zwei Holzlatten und versuchte, sie auseinander zu brechen – mit dem einzigen Erfolg, dass sie sich Splitter einzog.
Weinend sank Fürstin Yanagisawa in einer Ecke des Raumes zu Boden. »Ich kann mein kleines Mädchen nicht finden!«, klagte sie. »Wo ist Kikuko -chan ?«
Reiko besah Wände und Decke, die mit Rissen und Löchern übersät waren, doch keine Öffnung war groß genug, um ein Entkommen zu ermöglichen. Das Bauwerk schien alt und verfallen, aber massiv zu sein. Bald war Reiko erschöpft und schwitzte trotz der Kälte. Sie stand in der Mitte des viereckigen Raumes und blickte zur Decke, die dreimal so hoch war wie ein normal gewachsener Mann. Mondlicht fiel durch Ritzen und Spalten im Gebälk. Die Aussichtslosigkeit ihrer Situation raubte Reiko die letzten Kräfte, und sie ließ sich auf die Knie sinken.
»Was soll jetzt aus uns werden?«, fragte Midori leise.
Fürstin Keisho-in sprang auf, stapfte durch das dämmrige Verlies zu den Fenstern und trommelte mit den Fäusten gegen die Läden. »Hilfe!«, schrie sie. »Hilft uns denn keiner?«
»Ihr dürft jetzt nicht die Nerven verlieren«, sagte Reiko beinahe flehend. »Wir müssen unsere Kräfte schonen und einen kühlen Kopf bewahren, falls sich die Gelegenheit zur Flucht ergibt.«
»Wir werden niemals entkommen!«, sagte Midori unter Tränen. »Wir alle werden sterben!«
Ihre übermächtige Angst sprang auf Keisho-in über, die ihre Fingernägel ins Holz der Tür krallte und schrie: »Lasst mich gehen! Ich halte es hier drin nicht mehr aus!«
Obwohl Reiko versuchte, den Freundinnen gut zuzureden und Trost zu spenden, schenkten diese ihr keine Beachtung.
»Hirata -san !«, rief Midori so schrill und laut, als könnte ihre Stimme die Entfernung bis zu ihrem Gemahl überbrücken, während Keisho-in sich immer wieder gegen die Tür warf, wobei sie derbe Flüche ausstieß, die ihre niedere Herkunft verrieten. Fürstin Yanagisawa kauerte wie ein Häuflein Elend am Boden und murmelte Unverständliches.
Noch nie hatte Reiko sich so hilflos gefühlt. Doch sie war sicher, dass Sano vom Shōgun den Befehl erhielt, sofort die Ermittlungen aufzunehmen, sobald die Nachricht von dem Massaker und den Entführungen nach Edo gelangte. Und Reiko ahnte, dass sie im Mittelpunkt des vielleicht größten Falles stand, den Sano je zu lösen hatte. Doch all ihr eigenes Können und ihre Erfahrungen zählten hier nicht; diesmal war sie nicht die Ermittlerin, sondern das Opfer.
Körperlicher Schmerz und die schreckliche Angst, Sano und Masahiro nie wieder zu sehen, überkamen Reiko. Nun liefen auch ihr Tränen über die Wangen, verebbten aber rasch. Reiko war wie ein Samurai erzogen worden, und so gewannen Stolz und feste Entschlossenheit die Überhand, ließen grelle Wut auf die Entführer in ihr aufsteigen und verdrängten jeden Gedanken an kampflose Aufgabe. Sie musste sich und ihre Freundinnen in Sicherheit bringen und die Entführer ihrer gerechten Strafe zuführen, egal wie.
»Hirata -san …«, jammerte Midori unablässig.
Die Verzweiflung ihrer Freundin schmerzte Reiko. Doch so sehr sie sich wünschte, etwas unternehmen zu können – sie musste
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