Der Palast
der Schweißgeruch der Männer verrieten. Reiko hörte die dumpfen Laute, als die Maskierten ihre Lasten fallen ließen. Dann wurde auch sie selbst unsanft abgesetzt – und erstarrte, als sie ein metallisches Schaben hörte: Die Männer zogen ihre Schwerter. Entsetzen überkam Reiko. Sie war sicher, dass die Entführer sie und ihre Gefährtinnen nun töten würden. Reiko stöhnte und wand sich in den Fesseln.
Plötzlich packten starke Hände die rauen Seile, mit denen Reiko gefesselt war. Dann spürte sie, wie die Spannung der Fesseln abrupt nachließ, als eine Klinge sie durchtrennte. Kaum waren die Seile gelöst, sprang Reiko auf und griff blind nach dem Dolch, den sie unter dem Ärmel versteckt trug. Lieber wollte sie sterbend untergehen, als in einem Verlies langsam zu Tode vegetieren.
Doch die Waffe war verschwunden; offenbar hatten die Entführer sie ihr beim Kampf entrissen. Reiko wurde schwarz vor Augen. Sie wehrte sich gegen die drohende Ohnmacht. Ihre von den Fesseln schmerzenden Muskeln gaben unter ihrem eigenen Körpergewicht nach. Sie taumelte, stürzte und lag würgend vor Übelkeit am Boden, in kalten Schweiß gebadet. Sie hörte, wie die Männer davongingen. Dann schlug mit lautem Knall eine Tür zu. Von außen wurden eiserne Riegel vorgeschoben. Stampfende Schritte entfernten sich die Treppe hinunter.
Tränen hilfloser Wut strömten Reiko über die Wangen, und sie verfluchte sich selbst wegen ihrer Schwäche. Sie hatte versagt. Nun gab es keine Möglichkeit mehr zur Flucht.
Doch sie durfte keine Energie verschwenden, indem sie vergebenen Chancen nachtrauerte; deshalb richtete Reiko ihre Aufmerksamkeit auf die Gefährtinnen. Mit einiger Mühe, da ihre Hände von den Fesseln noch geschwollen und taub waren, zerrte sie sich die Kapuze vom Kopf und zog sich den Knebel aus dem Mund. Sie blinzelte im schwachen Licht, das durch Ritzen und Spalten in den Fensterläden fiel. Die Fenster befanden sich in jeder der vier Wände eines quadratischen Raumes, in dem sie lag. Draußen, irgendwo in der Tiefe, war das Rauschen eines Flusses oder Sees zu hören; der Geruch des Wassers stieg Reiko in die Nase. Als ihre Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah sie in ihrer Nähe drei Gestalten am Boden liegen.
»Fürstin Yanagisawa!«, rief sie. »Midori -san ! Keisho-in!«
Dumpfes Stöhnen beantwortete Reikos Rufe. Sie stemmte sich hoch und holte mehrmals tief Luft, bis der Schwindel und die Übelkeit nachließen. Dann kroch sie zu der am nächsten liegenden Gestalt, nahm ihr die Kapuze ab und zog ihr den Knebel aus dem Mund.
»Igitt!« Fürstin Keisho-in hustete und spuckte. Ihre sonst so wachen Augen blickten verängstigt in ihrem hageren, bleichen Gesicht. »Das ist ja schlimmer als der schlimmste Brummschädel, den ich nach einer durchzechten Nacht je hatte. Was ist mit uns geschehen? Wo sind wir?«
»Man hat uns entführt, unter Drogen gesetzt und hier eingesperrt«, sagte Reiko, froh, dass die Mutter des Shōgun eine so zähe alte Frau war, die sich trotz der schrecklichen Erlebnisse rasch wieder gefangen hatte. »Wo wir sind, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass wir uns in einem Wald befinden, hoch über einem See oder der Küste.«
Fürstin Keisho-in machte den unbeholfenen Versuch, sich zu erheben. »Ich muss Wasser lassen«, sagte sie.
Reiko schaute sich in dem Raum um. Es waren keinerlei Einrichtungsgegenstände zu sehen, und der Fußboden bestand aus rauen Brettern. Der Putz an den Wänden blätterte an vielen Stellen ab. In einer Ecke standen zwei Eimer aus Metall. Reiko holte einen davon und half Keisho-in, sich daraufzusetzen.
Nachdem die Fürstin ihre Blase entleert hatte, sagte sie: »Ich sterbe vor Durst.«
Auch Reikos Mund und Kehle waren ausgetrocknet. Sie durchsuchte das Verlies und entdeckte in einer Ecke tatsächlich ein Tongefäß voll Wasser, das sie und Keisho-in mit gierigen Zügen leerten. Das Wasser war lauwarm und schmeckte abgestanden.
Eine weitere schemenhafte Gestalt, die auf dem Fußboden lag, ließ ein tiefes Stöhnen hören. An dem schwangeren Leib war zu erkennen, dass es sich um Midori handelte. Sie hatte sich selbst von der Kapuze und dem Knebel befreit. Als Reiko zu ihr eilte, würgte sie.
»Ich … muss mich übergeben«, stieß sie hervor.
Rasch holte Reiko den zweiten Eimer und hielt Midoris Kopf, als diese sich übergab. Als sie fertig war, setzte sie sich auf und hielt sich stöhnend den Leib.
»Mein Kind.« Vor Angst klang ihre Stimme schwach
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