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Der Palast

Der Palast

Titel: Der Palast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rowland
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vergangenen zehn Jahren hatte die Schwarze Lotosblüte zahllose Menschen, die sich ihr widersetzt hatten, gefoltert und ermordet. Diese Fanatiker, die dafür verantwortlich gewesen waren, dass es bei der Zerschlagung ihrer Sekte mehr als siebenhundert Tote gegeben hatte, wären imstande, die Teilnehmer eines Pilgerzugs abzuschlachten, ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben. Bei dem Gedanken, Reiko könnte Mitgliedern der Schwarzen Lotosblüte in die Hände gefallen sein, durchlief es Sano eiskalt. Die Sekte würde sich an Reiko rächen – auf eine Art und Weise, die schlimmer war als der Tod.
    »Wie es scheint, haben wir eine ganze Reihe von Verdächtigen, die wir überprüfen müssen«, sagte Kammerherr Yanagisawa.
    »Dann … äh, befehle ich euch allen, sofort die Arbeit aufzunehmen, meine Mutter zu befreien und sämtliche Personen hinzurichten, die für ihre Entführung verantwortlich sind.« Der Shōgun wedelte mit der Hand. »Ihr könnt gehen.«
    Sano und Hirata verließen den Palast. Hirata hüllte sich in brütendes Schweigen, bis sie das Tor zu Sanos Anwesen passiert hatten und über den Innenhof gingen. Erst hier stieß Hirata hervor: »Verzeiht, wenn ich frei heraus spreche, sōsakan-sama, aber ich finde, wir unternehmen nicht genug, um die Frauen zu retten. Unsere Aufmerksamkeit auf Edo zu richten und die Nachforschungen auf unsere Feinde zu beschränken, mag sich ja als lohnend erweisen, aber wenn es Beweisstücke gibt, die von den Entführern zurückgelassen wurden, finden wir sie auf der Tōkaidō.«
    »Du hast Recht«, sagte Sano. »Deshalb werde ich dir einen geheimen Auftrag erteilen.«
    Auf Hiratas Gesicht, das vom flackernden Licht der Fackeln auf dem Hof erleuchtet wurde, erschien ein hoffnungsvoller Ausdruck.
    »Du wirst zu dem Straßenabschnitt reisen, an dem der Überfall stattgefunden hat«, fuhr Sano fort. »Die Ermittler Marume und Fukida werden dich begleiten. Tarnt euch und benutzt falsche Namen. Niemand darf erfahren, dass ihr Ermittlungen über das Verbrechen anstellt. Die Entführer dürfen nicht merken, dass wir ihre Anweisungen missachten und ihnen auf der Spur sind. Seht euch den Schauplatz des Überfalls an, haltet nach Zeugen Ausschau und nehmt die Fährte der Entführer auf, falls möglich.«
    »Ja, sōsakan-sama !«, stieß Hirata dankbar hervor.
    »Lass es mich wissen, sobald du irgendwelche Hinweise findest. Aber versprich mir, dich von den Entführern fern zu halten und nichts zu unternehmen, das die Frauen in Gefahr bringen könnte.«
    »Ich verspreche es.« Furcht und Hilflosigkeit fielen von Hirata ab; er strotzte vor Zuversicht. »Bei Tagesanbruch sind Fukida, Marume und ich zum Abritt fertig. Und wir werden die Entführer finden, verlasst Euch darauf.«
    Hirata eilte zu den Kasernen. Sano blieb allein im Hof stehen und lauschte dem Zirpen der Grillen, dem Bellen von Hunden und den Geräuschen der berittenen Patrouillen, die nachts über das Palastgelände streiften, das sich einsam und dunkel um Sano ausbreitete.
    Seine Gedanken eilten zu Reiko. Wo mochte sie jetzt sein? Sano betete, dass sie und die anderen Frauen unverletzt nach Hause kamen und dass sein entschlossener Einsatz – gepaart mit Glück – dafür sorgte, dass seine düsteren Vorahnungen nicht Wirklichkeit wurden.

4.
    S
    chluchzen und Stöhnen weckten Reiko. In ihrer Benommenheit war ihr erster Gedanke, dass Masahiro von einem Albtraum aus dem Schlaf gerissen worden war. Sie wollte zu ihm – und bemerkte, dass sie sich nicht bewegen konnte.
    Stählerne Bänder schienen ihre Beine zusammenzupressen und drückten auf ihre Schultergelenke. Verwirrt schlug sie die Augen auf, doch es war nur undurchdringliche Dunkelheit um sie herum: Ihr Gesicht war von dickem, derbem Stoff bedeckt. Erschrocken wollte sie nach Luft schnappen, würgte aber, weil irgendetwas Raues, Staubtrockenes in ihrem Mund steckte. Erst jetzt bemerkte Reiko, dass sie getragen wurde – mit schnellen, gleichmäßigen Schritten – und dass die stählernen Ringe, die um ihre Beine und Schultern lagen, in Wirklichkeit kräftige Hände waren, die sie an den Fußgelenken und unter den Achseln gepackt hielten. Und da war immer noch das Schluchzen, das sie geweckt hatte, begleitet von dumpfem Stöhnen.
    Panik stieg in Reiko auf. Wo war sie? Was geschah mit ihr?
    Dann kehrte die Erinnerung wieder, schrecklich und unerbittlich, und drang durch den Nebel ihrer Benommenheit. Bilder vom Hinterhalt, dem blutigen Gemetzel und der Entführung erschienen

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