Der Palast
sich seinem Wunsch aber nicht gebeugt hatte, wie die Tradition es verlangte. Ihre Liebe zueinander – und das Kind, das schon unterwegs gewesen war, bevor die Heiratsverhandlung stattgefunden hatte – hatte rasche Schritte erforderlich gemacht. Deshalb hatte Hirata den Fürsten durch einen Schwindel dazu gebracht, in die Heirat einzuwilligen, und das hatte der daimyo ihm nie verziehen. Fürst Niu hatte geschworen, das Paar auseinander zu bringen und sich an Hirata zu rächen. Alle Versuche Hiratas, den Fürsten zu besänftigen, waren gescheitert. Inzwischen schien es keine Hoffnung auf Versöhnung mehr zu geben, zumal Hirata inzwischen genug über seinen Schwiegervater erfahren hatte, um davon überzeugt zu sein, dass niemand anders als Fürst Niu die Verantwortung für das Massaker und die Entführungen trug.
Hirata und die beiden Ermittler betraten die Villa, einen labyrinthartigen Komplex aus Gebäuden, die auf einem Felsfundament standen und durch überdachte Gänge und Kreuzungspunkte miteinander verbunden waren. Schließlich betraten sie unangemeldet Nius Gemächer.
Der Fürst, in einen Morgenmantel gekleidet, kniete auf dem tatami, während sein Leibdiener ihm mit einer langen dünnen Klinge den Scheitel rasierte. Unweit der beiden kniete der oberste Gefolgsmann des daimyo, ein unscheinbarer Mann mit Namen Okita. An den Wänden standen Wachen. Alle blickten Hirata und die beiden Ermittler verwundert an.
»Wo ist sie?«, fragte Hirata ohne Umschweife.
Fürst Niu erwiderte zornig: »Was wollt Ihr denn hier?«
Der daimyo war ein kleiner Mann in den Fünfzigern mit dunkler Haut und breiten Schultern. Sein hervorstechendstes Merkmal aber war sein unregelmäßiges Gesicht, dessen eine Hälfte das verzerrte Abbild der anderen war. Sein linkes Auge war mit durchdringendem Blick auf Hirata gerichtet; Hass loderte darin. Das rechte Auge hingegen blickte ausdruckslos in die Ferne.
»Ich will wissen, wo meine Gemahlin ist«, sagte Hirata, stellte sich dicht vor seinen Schwiegervater und kämpfte das Gefühl des Unbehagens nieder, das dieser Mann stets bei ihm hervorrief. Die Ermittler Marume und Fukida postierten sich wachsam hinter Hirata.
»Woher soll ich das wissen?« Fürst Niu musterte Hirata mit einem verwunderten und zugleich feindseligen Ausdruck. »Ihr habt mir die Tochter gestohlen. Also ist es jetzt an Euch, auf dieses Weib Acht zu geben. Wie könnt Ihr es überhaupt wagen, ohne meine Einwilligung zu dieser frühen Stunde unangemeldet bei mir zu erscheinen und mir solch lächerliche Fragen zu stellen?«
Hätte jemand anderes so reagiert, hätte Hirata dem Betreffenden vielleicht geglaubt, doch Fürst Niu war verschlagen und verlogen.
»Midori, Fürstin Keisho-in, Reiko und Fürstin Yanagisawa wurden gestern entführt«, sagte Hirata.
»Was?« Fürst Nius Augenbrauen schnellten in die Höhe, und er beugte sich vor. »Wie ist das geschehen?«
Hirata berichtete es ihm. Fürst Nius Erschrecken schien echt zu sein. Andererseits … wenn Niu den Hinterhalt gelegt hatte, hätte er bestimmt mit Hiratas Erscheinen gerechnet und wäre darauf vorbereitet gewesen, den Unschuldigen zu spielen. Hirata warf einen Blick auf die Männer des daimyo. Die Wachen und Okita blickten erschrocken drein. Auch sie hatten von dem Verbrechen anscheinend noch nicht gewusst. Doch ihr Herr handelte oft ohne ihr Wissen.
»Sagt mir, was Ihr mit den Frauen gemacht habt«, verlangte Hirata.
»Ihr glaubt, ich hätte sie entführt?« Fürst Niu sprang so heftig auf, dass er beinahe seinen Leibdiener umgestoßen hätte, der seine Bemühungen einstellte, seinem Herrn den Scheitel zu rasieren.
»Ja«, sagte Hirata. »Ich glaube, Ihr seid dafür verantwortlich.«
»Ihr seid ja von Sinnen!«, rief Fürst Niu. »Warum sollte ich so etwas tun?«
»Um Midori und mich zu trennen und die Verbindung zwischen unseren Familien zunichte zu machen«, erwiderte Hirata. »Ihr wollt den Shōgun zwingen, dass er die Ehe zwischen mir und Midori für ungültig erklärt.«
Fürst Niu stand da wie vom Donner gerührt. »Wie sehr ich Euch auch hasse – niemals würde ich den Befehl erteilen, einen Pilgerzug der Tokugawa niederzumetzeln oder die Mutter des Shōgun zu entführen. Ihr seid es nicht wert, das Risiko einzugehen, wegen Hochverrats und Mordes hingerichtet zu werden.« Seine Stimme wurde herablassend, und seine Hand schoss vor und stieß Hirata zurück. »Nur ein Verrückter würde wegen eines Streits mit einem Niemand wie Euch einen Finger
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