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Der Palast

Der Palast

Titel: Der Palast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rowland
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hilflos abwarten, was weiter geschah.

5.
    I
    n der Morgendämmerung schwebte die Sonne wie ein riesiger Blutstropfen über den Hügeln östlich von Edo und schimmerte im Dunst, der über der Stadt lag. Die Klänge unzähliger Tempelglocken riefen die Mönche zum Morgengebet und weckten die Städter aus ihrem Schlummer. Auch im Palast zu Edo erwachte das Leben. Begleitet vom Frühgesang der Vögel in den Gärten des Shōgun, öffneten die Wachen eines der riesigen, eisenbeschlagenen Tore in der steinernen Mauer, die den Palast umschloss. Hirata kam durch das Tor, begleitet von den Ermittlern Fukida und Marume. Fukida war ein ernster, in sich gekehrter Samurai in den Zwanzigern, schlank und beweglich, während der zehn Jahre ältere Marume ein massiger, stets fröhlicher Mann war. Die Satteltaschen der Pferde, die Hirata und die beiden Ermittler ritten, waren bereits gepackt für die Reise zum Schauplatz des Verbrechens an der Tōkaidō. Die drei Männer waren als rōnin getarnt und trugen alte Baumwollumhänge und breitkrempige Strohhüte. Nichts ließ ihren tatsächlichen Rang erkennen. So hofften sie, sich unbemerkt unter die Reisenden auf der Fernstraße mischen zu können und die Gelegenheit zu bekommen, die Entführer aufzustöbern.
    Statt der Hauptstraße nach Westen in Richtung der Tōkaidō zu folgen, führte Hirata seine Männer über eine Straße im Wohnviertel der daimyo im Süden des Palastes. »Ein kurzer Halt kann uns möglicherweise eine lange Suche ersparen«, erklärte er.
    Die Hitze des Tages vertrieb die flüchtige nächtliche Kühle, als die Stadt zum Leben erwachte. Bald drängten sich berittene Samurai auf den breiten Alleen im Viertel der daimyo, in dem sich die Villen reihten: prachtvolle Anwesen, von weiß getünchten Kasernengebäuden in Fachwerkbauweise umstanden, deren Wände mit schwarzen Kacheln verziert waren. Träger schafften Säcke voller Reis und andere Lebensmittel herbei, um die Angehörigen und Gefolgsleute der daimyo- Klans zu versorgen – tausende von Menschen. Vor einer der größten Villen im Viertel stiegen Hirata, Marume und Fukida von den Pferden. Das Tor des Anwesens war mit roten Balken und einem mehrstufigen Dach verziert; ein weißes Banner über dem Portal trug ein Abzeichen, das eine Libelle zeigte: das Wappen des Niu-Klans. Hirata näherte sich einem Posten in einem der Zwei-Mann-Wachhäuser.
    »Ist Fürst Niu zu Hause?«, fragte er.
    Der Posten musterte Hiratas schäbige Kleidung, grinste spöttisch und sagte: »Wer will das wissen?« Dann erkannte er plötzlich, wen er vor sich hatte, nahm Haltung an und verbeugte sich. »Ich bitte um Vergebung«, sagte er. »Ja, Fürst Niu ist daheim.«
    »Ich will ihn sprechen«, sagte Hirata, in dessen Stimme mühsam unterdrückter Zorn mitschwang.
    »Gewiss«, sagte der Posten und öffnete das Tor. »Ich werde ihm Euren Wunsch ausrichten.«
    »Spart Euch die Mühe. Ich sage es ihm selbst.«
    Gefolgt von Marume und Fukida, betrat Hirata durch das Tor einen Innenhof, der von patrouillierenden Samurai bewacht wurde. Hirata und seine Männer sahen Waffenkammern, die ein Arsenal an Schwertern, Speeren und Lanzen enthielten. Als sie ein weiteres Tor passierten, das sich hinter den Kasernen der Offiziere befand, konnte Hirata seine Wut auf Fürst Niu kaum noch bezähmen.
    Nicht persönliche Abneigung, sondern der Lauf der Geschichte hatte den Grundstein für ihre Feindseligkeit gelegt: Fürst Nius Klan zählte zu den Verlierern der Schlacht von Sekigahara, die fast hundert Jahre zuvor stattgefunden hatte, als die Nius und andere daimyo von den Tokugawa und deren Verbündeten – zu denen auch Hiratas Klan gehörte – besiegt und zum Treueid gezwungen worden waren. Wenngleich die meisten Klans der damals unterlegenen daimyo die Herrschaft der Tokugawa längst anerkannt hatten und keinen Groll mehr gegen sie hegten, war Fürst Niu noch immer voller Zorn und Verbitterung. Er hasste den Shōgun und das Herrscherhaus; er hasste jeden koban, den er den Tokugawa an Steuern zahlen musste, und er hasste das Gesetz, das seiner Familie auferlegte, als Geiseln in Edo zu bleiben, wenn Fürst Niu selbst sich auf seinen Gütern in der Provinz aufhielt; dieses Gesetz sollte der Gefahr vorbeugen, dass Feudalherrn wie Niu einen Aufstand gegen die Tokugawa anzettelten. Fürst Niu hasste jeden, der auf irgendeine Weise mit dem Regime verbündet war – einschließlich Hirata. Niu hatte sich der Verbindung zwischen Hirata und Midori widersetzt, die

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