Der Palast
Bediensteten auf den Hof geführt, auf dem sich Bürger der Stadt versammelt hatten, um dem Magistraten ihre Streitigkeiten vorzubringen; Polizisten bewachten gefesselte Sträflinge, deren Gerichtsverhandlung anstand. Sano wies seine Männer an, auf ihn zu warten; dann betrat er die Villa, ein langes, niedriges Gebäude mit weit überstehenden Dachvorsprüngen und vergitterten Fenstern. Drinnen traf Sano den Magistraten vor der geschnitzten Tür an, hinter der sich der Gerichtssaal befand.
»Sano -san !«, sagte Magistrat Ueda erfreut. Er war ein stämmiger Samurai mittleren Alters mit breitem, furchigem Gesicht, der sein graues Haar auf dem Scheitel zu einem dicken Knoten gebunden hatte. Er trug einen schwarzen Umhang mit goldenem Wappen, ein Zeichen seines Amtes. Nachdem er und Sano sich voreinander verbeugt hatten, sagte Ueda: »Ich freue mich sehr, dich zu sehen, nur muss ich jetzt leider eine Verhandlung führen.«
»Bitte verzeiht die Störung«, sagte Sano, »aber wir müssen reden.«
Der Magistrat runzelte die Stirn; er spürte, dass etwas nicht stimmte. Ein sorgenvoller Ausdruck erschien in seinen wachen, klugen Augen. »Was ist geschehen?«
Sano warf einen Blick zu den Wachen vor dem Gerichtssaal und den Schreibern, die geschäftig umhereilten. »Können wir in Eurer Amtsstube reden?«
Dort angekommen, nahm Magistrat Ueda hinter seinem Schreibpult Platz. Sano kniete sich ihm gegenüber. »Ich muss Euch leider die Mitteilung machen, dass Eure Tochter entführt wurde.«
Magistrat Uedas Gesicht wurde ausdruckslos, als Sano ihm von den Begleitumständen des Verbrechens berichtete. Jeder, der Ueda nicht kannte, hätte den Eindruck gehabt, ihm wäre das Schicksal seiner Tochter gleichgültig. Sano aber wusste, welchen Schock dieser Mann nun erlebte und wie die Angst in ihm wühlte. Magistrat Ueda liebte seine Tochter, sein einziges Kind; für ihn war sie die lebende Erinnerung an seine geliebte Frau, die gestorben war, als Reiko noch ein kleines Mädchen gewesen war. Später hatte er Reiko eine Ausbildung zukommen lassen, wie sie üblicherweise Söhnen vorbehalten blieb. Allein die Tatsache, dass er sein ganzes Leben nach den strengen Regeln eines Samurai geführt hatte, versetzte Ueda nun in die Lage, nach außen hin gelassen zu bleiben.
»Wenn ich etwas tun kann, um dir bei der Rettung der Frauen zu helfen und die Verbrecher zu ergreifen, sag es mir«, erklärte er.
»Ich danke Euch, ehrenwerter Schwiegervater.« Sano verbeugte sich. Dann berichtete er Ueda von seinem Verdacht, die Sekte der Schwarzen Lotosblüte könne hinter den Entführungen stecken. »Sind derzeit Mitglieder der Sekte in Haft?« Sanos Ermittlertruppe und die reguläre Polizei machten noch immer Jagd auf überlebende und neue Anhänger der Schwarzen Lotosblüte; verhaftete Sektenmitglieder wurden anschließend von Magistrat Ueda abgeurteilt.
»Gestern hat die Polizei zwei Männer festgenommen«, beantwortete Ueda Sanos Frage. »Sie sind schon im Gerichtssaal, wo ich gleich die Verhandlung gegen sie leiten werde.«
»Dürfte ich die Männer anschließend vernehmen?«, fragte Sano.
»Selbstverständlich«, erwiderte der Magistrat.
Sano und Ueda betraten den Gerichtssaal – eine lange Halle, in der die Zuschauer in Reihen auf dem Boden knieten. An sämtlichen Ausgängen standen Bewaffnete. Streifen aus Sonnenlicht, in denen der Staub tanzte, fielen durch die vergitterten Fenster. Die Anwesenden wedelten sich mit Papierfächern Luft zu. Die beiden Angeklagten knieten vor dem Podium des Magistraten auf dem shirasu, einer quadratischen Vertiefung im Fußboden, die mit weißem Sand gefüllt war, dem Symbol der Wahrheit. Sie trugen graue Gefängniskleidung und waren an Händen und Füßen gefesselt. Sano kniete sich in den hinteren Teil des Saales, während Ueda auf dem Podium Platz nahm, flankiert von zwei Gerichtsschreibern. Sämtliche Anwesenden verbeugten sich vor dem Magistraten.
Ein Gerichtsdiener verkündete: »Hiermit ist die Verhandlung gegen die Angeklagten Jun und Goza aus dem Bezirk Honjo eröffnet! Sie werden der Brandstiftung, des Mordes und der Zugehörigkeit zu einer verbotenen religiösen Sekte beschuldigt!«
Die Angeklagten – beide gemeine Bürger – waren kräftige Männer Ende zwanzig. Jun hatte kurz geschnittenes Haar; wären seine dicken Lippen nicht zu einem beständigen Schmollen vorgestülpt gewesen, hätte man sein Gesicht als hübsch bezeichnen können. Gozas Kopf war kahl rasiert. Er besaß ein rundes
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