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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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hat, nehme ich mit dir vorlieb. Tu mir einen Gefallen, Jeremy. Richte es ein, dass du ihn heute Abend besuchen kannst. So schnell wie möglich. Sie sind alle hier – er, seine Eltern und seine Schwester. Und stell dir vor: um die ganze Sache noch trauriger zu machen, eine Ehefrau. Der Junge hat vor zwei Jahren geheiratet. Hat das Sperma benutzt, das wir für ihn aufbewahrt haben, und jetzt ist sie schwanger. Ist das Leben nicht grandios? Er ist oben auf der Fünf West. Wann zum Teufel kannst du bei ihm sein?«
    »Sobald ich fertig gegessen habe.«
    »Ich hoffe, ich hab dir nicht den Appetit verdorben.«
    Er kehrte zum Tisch zurück. Angela hatte in seiner Abwesenheit keinen Bissen zu sich genommen.
    »Schwierigkeiten?«, fragte sie.
    »Nicht unsere Schwierigkeiten.« Er setzte sich schwerfällig hin, aß ein Stück von dem Burger und spülte es mit Cola hinunter, zog seine Krawatte gerade und knöpfte seinen weißen Kittel zu. Dann erklärte er ihr die Situation.
    »Das ist mehr als tragisch«, sagte sie. »Das hilft einem, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Wie kleinlich ich dastehe mit meinen albernen Problemen.«
    »Kleinlich zu sein ist ein Grundrecht«, erwiderte er. »Ich kann dir den Verfassungszusatz nicht nennen, aber glaub mir, es steht definitiv drin. Ich habe gesehen, wie für Familien nach einer traumatischen Diagnose eine Welt zusammenbricht und jeder hart daran arbeitet, sich auf die großen Themen zu konzentrieren. In einer Krise ist das okay, aber man kann nicht immer so weiterleben. Schließlich komme ich dazu, ihnen zu sagen: ›Wenn ihr wieder anfangt, kleinlich zu sein, weiß ich, dass ihr es geschafft habt.‹«
    Sie legte ihre Hand auf seine. »Wo liegt er, auf der Fünf?«
    »Fünf West. Bist du noch auf der Vier?«
    »Ja.«
    »Fahren wir zusammen hoch.«
    Er setzte sie ab und fuhr weiter zur Krebsstation. Gab sich Phantasien hin, wie er an der Station vorbeiging und den Korridor zum Hauptgebäude nahm. Dann die Treppen hochlief bis zum Penthousegeschoss.
    Er hatte keine Ahnung, was er sagen oder tun würde, wenn Dirgrove ihm wieder über den Weg liefe, aber er hatte das Gefühl, dass er keine schlechte Figur abgeben würde.
    Als die Aufzugtür sich auf der Fünf West öffnete, ging er hinaus und sah für den beiläufigsten Beobachter wie ein Mann mit einer Aufgabe aus.
    Was zum Teufel würde er Doug Vilardi und seiner Familie sagen?
    Höchstwahrscheinlich würde er seinen Mund halten und zuhören.
    Die Tugend des Schweigens.
Die Sprüche der Väter.
    Mit siebzehn war Doug ein großer, schlaksiger, dunkelhaariger Junge gewesen, kein toller Schüler, sein bestes Fach war Metallverarbeitung. Seitdem hatte er zugenommen, ein paar von den Haaren verloren, die im Anschluss an die Chemotherapie wieder nachgewachsen waren, einen Diamantensplitter in sein linkes Ohr gesteckt, sich einen teefarbenen Spitzbart stehen und ein Tattoo auf seinen rechten Unterarm machen lassen.
»Marika«
in blauer Schrift.
    Er sah wie ein ganz normaler Zeitgenosse aus, der sein Geld mit seiner Hände Arbeit verdiente, abgesehen von der Blässe – jener bestimmten Blässe –, die seine Haut überzog, und den gelbsüchtigen Augen, die aufleuchteten, als Jeremy das Zimmer betrat.
    Keine Familie, nur Doug im Bett. Die Beinprothese stand in einer Ecke. Er trug einen Krankenhauskittel, und ein Bettlaken bedeckte ihn von der Hüfte abwärts. Eine Infusion war bereits angelegt, und von Zeit zu Zeit klickte sie.
    »Doc! Lange nicht gesehen! Schauen Sie mal, was ich mit mir angestellt habe.«
    »Sie waren kreativ, oder?«
    »Yeah, das Leben wurde allmählich verflixt langweilig.« Doug lachte und hielt ihm die Hand zu einem Soul-Händedruck hin. Seine Muskeln traten hervor, und
»Marika«
sprang hoch, während er Jeremys Finger festhielt.
    »Es ist schön, Sie zu sehen, Doc.«
    »Ich finde es auch schön, Sie wiederzusehen.«
    Doug brach in Tränen aus.
    Jeremy setzte sich ans Bett, nahm Dougs Hand wieder in seine und hielt sie fest. Wenn man das bei einem Mann aus der Arbeiterklasse in irgendeiner anderen Situation versuchte, lief man Gefahr, eine gescheuert zu bekommen.
    Vor sieben Jahren hatte Jeremy eine Menge Händchen gehalten.
    Doug hörte auf zu schluchzen und sagte: »Scheiße, das ist genau das, was ich nicht tun wollte.«
    »Ich glaube«, sagte Jeremy, »dass Ihnen das in Ihrer Lage niemand zum Vorwurf machen kann.«
    »Yeah … ach, Scheiße, Doc, das hier stinkt zum Himmel! Ich kriege bald ein Kind. Was soll

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