Der Peststurm
lediglich allein lassen, wenn er an jedem zweiten Tag ins Dorf hinunterschlich, um Jakob Bomberg und der kleinen Lea frisches Wasser zu bringen, für das er im Gegenzug ein paar fix und fertig gerupfte Hühner und so viele Eier bekam, dass sie für sämtliche Schlossbewohner ausreichten. Seit seine Mutter krank war und Sarah mit ihrer Mutter im Schloss lebte, ging er zu einer anderen Zeit als zuvor zu den Bombergs ins Dorf hinunter. Dort spielte er dann ein bisschen mit Lea, die ihre Mutter und ihre Schwester sehr vermisste, bevor er sich mit Jakob Bomberg über dies und das unterhielt und ihm von seinem Enkel erzählte.
Auch Lea wollte alles über das Neugeborene erfahren; immerhin war es ihr Neffe … und sie war jetzt stolze Tante. Selbstverständlich berichtete Lodewig haarklein, wie es Judith und Sarah im Schloss erging, wobei Jakob stets auch wissen wollte, wie es um Konstanze stand. Immer wenn Lodewig von ihr berichtete, kam ihm auch sein kleiner Bruder in den Sinn, weshalb er die Tränen nur selten zurückhalten konnte. Lodewig wusste, dass er sich in Gegenwart von Sarahs Vater nicht mehr verstellen musste und er sich sogar von ihm trösten lassen konnte, wenn es gar zu schlimm wurde. Längst hatte der junge Mann Vertrauen zu dem freundlichen Juden gefasst und ihn in sein Herz geschlossen. Auch sein Schwiegervater freute sich, dass er sich mit Lodewig zunehmend besser verstand.
Schnell kehrte Lodewig wieder ins Schloss zurück, weil ihm Jakob ein Huhn mitgegeben hatte, das er Judith, nachdem er ihr einen herzlichen Gruß von ihrem Mann ausgerichtet und ihr sogar zaghaft in seinem Namen einen zarten Kuss auf die Wange gedrückt hatte, übergab.
»Mein geliebter Jakob. Er hat daran gedacht, dass Konstanze eine fette Suppe aus gekochtem Huhn guttun wird. Oh, wie ich ihn liebe«, entfuhr es Judith in der Küche so laut, dass es sogar Konstanze, die im Nebenraum auf ihrem Lager ruhte, hörte. Sie war erst vor wenigen Minuten aus dem Schlaf aufgeschreckt, weil sie geträumt hatte, ihrem Mann sei auf seinem Ritt nach Bregenz Unheil widerfahren.
Jetzt dachte sie intensiv an ihn und Eginhard, was ihr trotz ihrer Besorgnis ein kurzes Lächeln auf die blassen Lippen zauberte.
*
Während die Stimmung nicht nur im Schloss, sondern auch im Dorf unten auf dem absoluten Nullpunkt angelangt war, gab es in Staufen einen Menschen, der intensiv darauf hinarbeitete, endlich sein Ziel zu erreichen, und einen anderen, der sich mit dem Verlauf der Ereignisse mehr als zufrieden zeigte. Da Fabio dem Totengräber immer noch die ganze Arbeit abnahm, hatte der Kindermörder nichts anderes zu tun, als abzukassieren und zu überlegen, wie er auch noch den zweiten Sohn des Kastellans beseitigen konnte. Seit er eines Tages zufällig gesehen hatte, wie Lodewig mit zwei Kübeln durch den Ort gegangen war, folgte er ihm, so oft es ging, unauffällig. Dabei hatte er feststellen können, dass sein geplantes Opfer allmorgendlich denselben Weg zum Haus der verhassten Juden nahm, was allein schon Grund genug für ihn wäre, Lodewig ebenfalls zu hassen.
Nachdem er ursprünglich vorgehabt hatte, seinen neuen Freund Hemmo darüber zu informieren, um ihn vor seinen Karren zu spannen, beschloss er letztendlich, die Sache weiterhin allein durchzuziehen, um keine Mitwisser zu haben. Er hatte sich in aller Ruhe einen tödlichen Plan zurechtgelegt, den er aber noch nicht in die Tat hatte umsetzen können, da er Lodewig schon einige Zeit nicht mehr gesehen hatte. Außerdem wusste er, dass er mit dem kräftigen jungen Mann kein solch leichtes Spiel haben würde wie mit dessen kleinem Bruder. So blieb ihm nichts anderes übrig, als tagtäglich in Sichtweite des Bomberg’schen Anwesens zu lauern und auf eine günstige Gelegenheit zu warten.
Während der Totengräber die meisten Vormittage mit Herumstehen und Warten totschlug, fühlte sich sein fleißiger Gehilfe Fabio immer mieser. Der Jüngling überlegte ernsthaft, ob er einfach davonlaufen und Staufen verlassen sollte. Da mittlerweile täglich bis zu 25, an manchen Tagen sogar noch mehr Menschen starben und die Arbeit kaum noch zu bewältigen war, lief ihm oft der Schweiß in Strömen herunter.
Der September neigte sich dem Schluss zu, aber ein Ende der Pest war immer noch nicht in Sicht.
Als Fabio gerade das 376. Pestopfer abholte, kam ihm Josen Bueb entgegen und ballte, in Erinnerung an die Schmach vom vergangenen Herbst, warnend die Fäuste. »Warte nur«, rief er. »Wir kriegen dich
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