Der Prediger von Fjällbacka
Körper entspannte.
»Ja, du hast wohl recht«, sagte er widerstrebend. »Wir haben alles getan, was wir konnten, aber es kommt einem so hoffnungslos vor. Die Zeit rennt uns davon, und hier sitze ich zu Hause, während Jenny vielleicht gerade in diesem Augenblick stirbt.«
Die Panik in seiner Stimme nahm wieder zu, und Erica drückte seine Schulter.
»Schhh, du kannst es dir nicht leisten, so zu denken.« Sie ließ ihren Ton ein wenig schärfer werden. »Du kannst jetzt nicht zusammenklappen. Wenn du ihr und ihren Eltern etwas schuldig bist, dann, daß du den Kopf oben behältst und immer weiterarbeitest.«
Er schwieg, aber Erica sah, daß er ihr zuhörte.
»Ihre Eltern haben mich heute dreimal angerufen. Gestern viermal. Glaubst du, es liegt daran, daß sie langsam aufgeben?«
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Erica. »Ich glaube nur, daß sie darauf vertrauen, daß ihr euren Job macht. Und in diesem Augenblick ist es dein Job, Kraft für einen weiteren Arbeitstag zu sammeln. Es bringt nichts, wenn ihr euch total auspowert.«
Patrik lächelte schwach, als er von Erica das Echo seiner eigenen Worte zu Gösta hörte. Vielleicht wußte er ja manchmal doch, wovon er sprach.
Er richtete sich nach ihrem Rat. Obwohl das Essen für ihn fad schmeckte, aß er, was vor ihm auf dem Tisch stand, und fiel dann in einen leichten, oberflächlichen Schlaf. In seinen Träumen rannte ein junges blondes Mädchen ständig vor ihm her. Zuweilen war sie so nahe, daß er sie hätte berühren können, aber in dem Moment, wo er die Hand ausstreckte, um sie zu fassen, lachte sie spöttisch und entwischte. Als er vom Klingeln des Weckers erwachte, war er müde und durchgeschwitzt.
Neben ihm hatte Erica in den meisten der wachen Stunden dieser Nacht über Anna nachgegrübelt. So entschlossen, wie sie am vergangenen Tag gewesen war, nicht den ersten Schritt zu tun, genauso sicher war sie nun im Morgengrauen, daß sie Anna, sobald es hell wurde, anrufen mußte. Irgend etwas stimmte nicht. Das konnte sie spüren.
Der Krankenhausgeruch erschreckte sie. Der sterile Duft, die farblosen Wände und die langweilige Kunst hatten etwas Endgültiges an sich. Da sie in der Nacht nicht eine einzige Minute hatte schlafen können, kam es ihr nun so vor, als ob sich alle um sie herum in Zeitlupe bewegten. Das Rascheln der Arztkittel verstärkte sich und klang in Solveigs Ohren lauter als alle anderen Geräusche. Sie erwartete, daß die Welt jeden Augenblick über ihr zusammenstürzte. Johans Leben hing an einem äußerst dünnen Faden, hatte der Arzt irgendwann in den Morgenstunden voller Ernst gesagt, und sie hatte sich schon im voraus auf das Trauern eingestellt. Was sollte sie anderes tun? Alles, was sie im Leben besessen hatte, war ihr wie feiner Sand durch die Finger geronnen und vom Wind fortgeweht worden. Nichts, was sie zu halten versucht hatte, war geblieben. Johannes, das Leben auf Västergärden, die Zukunft der Söhne - alles war zu einem Nichts verblaßt und hatte sie in ihre eigene Welt hineingetrieben.
Aber nun konnte sie nicht länger fliehen. Nicht, wenn sich die Wirklichkeit in Form von Bildern, Geräuschen und Gerüchen aufdrängte. Die Tatsache, daß man jetzt an Johans Körper herumschnitt, war zu konkret, als daß man davor fliehen konnte.
Sie hatte vor langer Zeit mit Gott gebrochen, aber nun betete sie mit ganzer Kraft. Sie ratterte alle Worte herunter, die ihr von ihrem Kinderglauben noch in Erinnerung waren, gab Versprechen, die sie nie würde halten können, aber hoffte, daß guter Wille zumindest so weit reichte, daß Johan einen winzig kleinen Vorsprung bekam, der ihn im Leben festhielt. Neben ihr saß Robert mit geschocktem Gesicht, das er den ganzen Abend und die Nacht hindurch behalten hatte. Sie wollte nichts lieber als die Arme nach ihm ausstrecken, ihn berühren, ihn trösten, Mutter sein. Aber viel zu viele Jahre waren vergangen, und nun waren alle Chancen verpaßt. Statt dessen saßen sie wie Fremde nebeneinander, nur vereint durch die Liebe zu dem, der dort drinnen lag, beide schweigend in der Gewißheit, daß er der Beste von ihnen war.
Eine bekannte Gestalt kam zögernd den Korridor herunter. Linda schlich sich an der Wand entlang, unsicher, wie man ihr begegnen würde, aber jede Streitlust war den beiden mit den Schlägen ausgeprügelt worden, die auf Sohn und Bruder herabgeprasselt waren. Still nahm sie neben Robert Platz und wartete ein Weilchen, bevor sie zu fragen wagte: »Wie steht’s mit ihm?
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