Der Prediger von Fjällbacka
Ich habe von Papa gehört, daß du ihn heute morgen angerufen und davon erzählt hast.«
»Ja, ich fand, Gabriel sollte es wissen«, sagte Solveig, den Blick noch in die Ferne gerichtet, »trotz allem ist Blut dicker als Wasser. Ich fand einfach, er sollte es wissen …« Sie schien wieder zu verschwinden, und Linda nickte nur.
Dann fuhr Solveig fort: »Sie operieren ihn noch immer. Wir wissen nicht viel mehr als . als daß er sterben kann.«
»Aber wer?« fragte Linda, fest entschlossen, die Tante nicht wieder in ihr Schweigen zurücksinken zu lassen, bevor sie eine Antwort auf die Frage bekam, die sie beschäftigte.
»Wir wissen es nicht«, sagte Robert. »Aber wer es auch ist, der Scheißkerl wird dafür bezahlen!«
Er schlug die Hand heftig auf die Armlehne und wachte für einen Moment aus seinem Schockzustand auf. Solveig sagte nichts.
»Was machst du hier überhaupt?« fragte Robert und begriff erst jetzt, wie merkwürdig es war, daß die Cousine, mit der sie nie direkt verkehrt hatten, ins Krankenhaus gekommen war.
»Ich . wir . ich«, Linda stotterte, als sie nach Worten suchte, um zu beschreiben, was es zwischen ihr und Johan eigentlich für eine Beziehung gab. Es erstaunte sie auch, daß Robert nichts wußte. Zwar hatte Johan gesagt, daß er seinem Bruder nichts von ihrem Verhältnis erzählt hatte, aber sie hatte es ihm doch nicht ganz geglaubt. Daß Johan ihre Beziehung geheimhalten wollte, war ein Beweis dafür, wie wichtig sie ihm gewesen sein mußte, und diese Erkenntnis ließ Linda plötzlich Scham empfinden.
»Wir . haben uns recht oft getroffen, Johan und ich.« Sie betrachtete eingehend ihre perfekt manikürten Fingernägel.
»Was heißt getroffen?« Robert schaute sie verblüfft an. Dann verstand er. »Aha, ihr habt also . Okay .« Er lachte auf. »Ja, guck an. Der Herr Bruder. Was für ein verdammter Gauner.«
Dann blieb ihm das Lachen im Hals stecken, als ihm einfiel, warum er hier saß, und der Schock spiegelte sich erneut in seinem Gesicht.
Während die Stunden dahingingen, saßen sie alle drei schweigend nebeneinander in dem tristen Wartezimmer, aber jedes Geräusch auf dem Flur ließ sie ängstlich nach einem Arzt im weißen Kittel Ausschau halten, der zu ihnen kommen und ihnen das Urteil verkünden würde. Ohne es voneinander zu wissen, beteten sie alle drei.
Als Solveig am frühen Morgen angerufen hatte, war er selbst über das Mitgefühl verwundert gewesen, das er empfunden hatte. Die Fehde zwischen den Familien dauerte schon so lange, daß ihnen die Feindschaft zur zweiten Natur geworden war, aber als er von Johans Zustand erfuhr, war aller Groll verschwunden gewesen. Johan war der Sohn seines Bruders, sein eigen Fleisch und Blut, und nur das zählte. Dennoch war es für ihn nicht selbstverständlich, ins Krankenhaus zu fahren. Er empfand es irgendwie als heuchlerisch und war dankbar, als Linda sagte, sie wolle hin. Er hatte ihr sogar das Taxi nach Uddevalla bezahlt, obwohl er Taxifahren im Normalfall als die Spitze aller Extravaganz betrachtete.
Gabriel saß unschlüssig an seinem großen Schreibtisch. Die ganze Welt schien auf dem Kopf zu stehen, und es wurde immer noch schlimmer. Ihm war, als sei in den letzten vierundzwanzig Stunden alles kulminiert. Jacob, den man zum Verhör geholt hatte, die Haussuchung auf Västergärden, die Blutproben, die man von der ganzen Familie gefordert hatte, und jetzt noch Johan im Krankenhaus, zwischen Leben und Tod schwebend. Die ganze Sicherheit, der er sein Leben gewidmet hatte, war im Begriff, vor seinen Augen in Schutt und Asche zu zerfallen.
Im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand sah er sein Gesicht, als wäre es das erste Mal. In gewisser Weise war es das auch. Er sah selbst, wie sehr er in den letzten Tagen gealtert war. Die Vitalität des Blickes war verschwunden, das Gesicht war von Kummer zerfurcht, und sein normalerweise sorgfältig gekämmtes Haar war zerwühlt und wirkte glanzlos. Gabriel mußte sich eingestehen, daß er von sich selbst enttäuscht war. Er hatte sich immer als einen Mann gesehen, der mit den Schwierigkeiten wuchs, als jemanden, auf den andere sich in schweren Zeiten verlassen konnten. Aber statt dessen hatte sich Laine als die Stärkere von ihnen beiden erwiesen. Vielleicht hatte er das eigentlich immer gewußt. Vielleicht war auch ihr das klar gewesen, aber sie hatte ihn in seiner Illusion belassen, weil sie wußte, daß er so am glücklichsten war. Ein inniges Gefühl erfüllte ihn. Eine stille
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