Der Prediger von Fjällbacka
Patrik so ruhig wie möglich zu erscheinen, aber in seinem Kopf jagte bereits ein Gedanke den anderen. Das Bild von Tanjas nacktem Körper in der Königsschlucht tauchte vor seinem inneren Auge auf, und er blinzelte, um es zu vertreiben.
»Wir warten keine vierundzwanzig Stunden, so ist es nur in amerikanischen Filmen, doch bevor wir etwas wissen, müssen Sie versuchen, sich keine Sorgen zu machen. Auch wenn ich Ihnen glaube, daß Jenny ein sehr ordentliches Mädchen ist, so habe ich so etwas schon früher erlebt. Die jungen Leute lernen jemanden kennen, vergessen Zeit und Raum, vergessen, daß sich Vater und Mutter zu Hause Sorgen machen. Das ist nichts Ungewöhnliches. Aber wir werden sofort mit dem Herumfragen beginnen. Lassen Sie uns eine Nummer hier, über die wir Sie erreichen können, dann melde ich mich, wenn ich mehr weiß. Und bitte geben Sie uns Nachricht, wenn Sie etwas von Ihrer Tochter hören sollten oder wenn sie zu Hause auftaucht. Die Sache wird sich aufklären, Sie werden schon sehen.«
Als die Leute gegangen waren, fragte sich Patrik, ob er zuviel versprochen hatte. Er verspürte ein Ziehen in der Magengegend, das nichts Gutes verhieß. Er betrachtete das Foto von Jenny, das die Besucher hiergelassen hatten. Gott gebe, daß sie sich nur ein bißchen herumtrieb.
Er stand auf und ging zu Martin hinüber. Es war das beste, sofort mit der Suche zu beginnen. Sollte das Schlimmste geschehen sein, hatten sie keine Minute zu verlieren. Laut dem Bericht der Gerichtsmedizin hatte Tanja ungefähr eine Woche in Gefangenschaft gelebt, bevor sie gestorben war. Die Uhr hatte angefangen zu ticken.
6
Sommer 1979
Schmerz und Dunkelheit ließen die Zeit in einem traumlosen Nebel versinken. Tag oder Nacht, Leben oder Tod, es spielte keine Rolle. Nicht einmal die Schritte über ihr, die Gewißheit des sich nähernden Bösen, konnten die Wirklichkeit dazu bringen, in ihren dunklen Horst vorzudringen. Das Geräusch brechender Knochen vermischte sich mit jemandes schmerzvollen Schreien. Vielleicht waren es ihre eigenen. Sie wußte es nicht genau.
Die Einsamkeit war am schwersten zu ertragen. Das totale Fehlen jedes Geräuschs, von Bewegungen, dem Gefühl einer Berührung auf der Haut. Sie hätte sich nie vorstellen können, wie quälend das Fehlen jedes menschlichen Kontakts sein konnte. Das trotzte jedem Schmerz, schnitt wie mit einem Messer in die Seele und brachte sie dazu, in Fieberschauern zu erbeben, die ihren ganzen Körper zum Zittern brachten.
Der Geruch des Fremden war ihr inzwischen gut bekannt. Er roch nicht schrecklich. Nicht so, wie sie sich vorgestellt hätte, daß das Böse riecht. Sein Duft war vielmehr frisch und voller Versprechungen von Sommer und Wärme. Das spürte man um so deutlicher im Kontrast zu dem dunklen, klammen Geruch, der ständig in ihrer Nase war. Der sie umgab wie eine feuchte Decke und Stück für Stück die Reste derjenigen vertilgte, die sie gewesen war, bevor sie hier landete. Deshalb sog sie gierig den Geruch der Wärme ein, wenn der Fremde näher kam. Das Schlimme zu durchleben war es wert, wenn man dafür nur einen Augenblick den Geruch des Lebens einatmen konnte, das irgendwo dort oben seinen gewohnten Gang nahm. Zugleich weckte dieser die dumpfe Sehnsucht nach all dem, was fehlte. Sie war nicht mehr dieselbe, die sie gewesen war, und sie vermißte die Person, die sie nun nie mehr werden würde. Es war schmerzhaft, sich davon zu verabschieden, aber um zu überleben, war sie dazu gezwungen.
Was sie hier unten sonst am meisten plagte, war der Gedanke an das Kind. Ihr ganzes kurzes Leben lang hatte sie der Tochter den Vorwurf gemacht, überhaupt geboren zu sein, aber jetzt im allerletzten Augenblick verstand sie, daß die Tochter statt dessen ein Geschenk gewesen war. Die Erinnerung an die weichen Arme des Kindes um ihren Hals oder an die großen Augen, die sie sehnsüchtig angesehen hatten, peinigten sie in ihren Träumen. Sie konnte jedes Detail vor sich sehen. Jede kleine Sommersprosse, jedes Haar, den kleinen Wirbel im Nacken, der sich an genau derselben Stelle befand wie der ihre. Wieder und wieder gab sie sich und Gott das Versprechen, daß sie, falls sie diesem Gefängnis entkam, an der Kleinen jede Sekunde wiedergutmachen würde, die sie ihr die Mutterliebe vorenthalten hatte. Falls …
»So gehst du mir nicht raus!«
»Ich gehe, wie ich will, darum hast du dich einen Scheißdreck zu kümmern.«
Melanie starrte ihren Vater wütend an, der genauso
Weitere Kostenlose Bücher