Der Preis des Schweigens
Bürokratie fühlte sich an wie ein schleichendes, quälendes Dahinsiechen. Andererseits: Welche Ausrede hätte ich denn, mich nicht zu bewerben?
»Ich kann es ja mal versuchen«, sagte ich, weil ich wollte, dass Nigel endlich nach Hause ging.
Bevor ich selbst Feierabend machte, ging ich zu Bodie hinunter, um ihn zu fragen, ob sich bei den Ermittlungen etwas Neues ergeben habe oder ob in der kommenden Nacht neue Entwicklungen zu erwarten seien. Im Großraumbüro der Kripo war nichts von ihm zu sehen, aber sein Handy lag auf seinem Schreibtisch, er musste also irgendwo in der Nähe sein. Neben dem Handy lag ein Haufen Asservatentüten, die Beweisstücke vom Ort der Brandstiftung enthielten. Offenbar mussten sie noch beschriftet und protokolliert werden. Zwei der Tüten enthielten undefinierbare rußschwarze Elektronikreste, aber der Gegenstand in der dritten Tüte war eindeutig zu erkennen: eine verkohlte LED-Taschenlampe.
Diese Taschenlampe schien plötzlich ins Riesenhafte zu wachsen und den ganzen Raum einzunehmen. Jetzt sah ich auch, was mir nicht aufgefallen war, als ich sie in unserer Rumpelkammer aus dem Regal gezogen hatte: Dans Initialen und seine Dienstnummer waren auf der Unterseite der Lampe ins Metall geritzt.
Die Taschenlampe war dreckig und verrußt, aber die Nummer war dennoch deutlich zu erkennen. Dienstnummern sind personalisierte Ziffernabfolgen, anhand derer jeder Polizeibeamte sofort erkennt, mit wem er es zu tun hat. Das ist so, als würde man eine Namensliste überfliegen und automatisch am eigenen Namen hängenbleiben. Je höher die Dienstnummer ist, desto länger ist man schon im Dienst. Die meisten Polizisten erkennen an der Dienstnummer eines Kollegen sogar, in welchem Jahr er bei der Polizei angefangen hat.
Dans LED-Taschenlampe war schon alt, und eigentlich sind Diensttaschenlampen keinem bestimmten Beamten zugeordnet, aber viele ritzen trotzdem ihre Dienstnummer hinein, damit sie nicht ständig von anderen Kollegen entwendet werden. Eines der großen Paradoxe bei der Polizei ist, dass man monatelang eine Zehnpfundnote oder einen Beutel mit Diamanten auf seinem Schreibtisch liegen lassen kann, ohne dass jemand auch nur im Traum daran dächte, sich zu bedienen – denn das wäre ja Diebstahl –, aber wenn man Milch in den gemeinschaftlichen Kühlschrank stellt oder Ausrüstungsgegenstände oder Büroartikel offen herumliegen lässt, meint jeder, er könnte sich frei bedienen. Dass Dan so akribisch war, seine Ausrüstung zu kennzeichnen, hätte ich mir eigentlich denken können.
Eine Taschenlampe mit Dans Dienstnummer, die plötzlich bei den Ermittlungen einer Brandstiftung auftauchte, würde jede Menge Fragen aufwerfen. Warum lag sie in den verkohlten Überresten eines Wohnwagens herum, obwohl Dan mit den Ermittlungen überhaupt nichts zu tun hatte? Das allein war schon schlimm genug, aber die Taschenlampe stellte auch eine Verbindung zwischen der Brandstiftung und mir her, und eventuell sogar zwischen mir und Justin. Was, wenn jemand – zum Beispiel Bodie – so schlau war, die Namen der Wohnwagenbesitzer in die Suchmaske unserer Datenbank einzugeben, um nach früheren Vorfällen zu suchen? Ich hatte erst vor wenigen Wochen in der Polizeidatenbank und bei NOMAD nach dem Namen Mathry gesucht. Konnte man diese Suche noch nachverfolgen?
Ich hatte auch nach dem Kennzeichen des Campingbusses gesucht, und diese Suche führte zu dem Unfallbericht von vor zehn Jahren, in dem wiederum die Mathrys erwähnt wurden. Natürlich würde als Initiator der Suche Bodies Benutzerkennung auftauchen, nicht meine. Aber auch dieser Umstand würde Fragen aufwerfen. Wenn Bodie die Suche nicht selbst durchgeführt hatte, dann war es jemand anders gewesen, der Zugang zum Büro und zu seinem Computer hatte, jemand, der aus irgendeinem Grund versucht hatte, seine Spuren zu verwischen.
Das Phantombild sah mir wirklich verdammt ähnlich. Ob dadurch bei irgendjemandem der Groschen fiel? Die Ähnlichkeit allein reichte natürlich nicht, um mir illegale Machenschaften anzuhängen, aber wie lange konnte ich unangenehmen Fragen noch aus dem Weg gehen? Was, wenn mich jemand gesehen hatte? Jemand, der morgen früh die Zeitung aufschlug, unsere Pressemitteilung mit bis dato unveröffentlichten Zahlen und Fakten las und sich auf unseren Aufruf zur Mitarbeit der Bevölkerung meldete?
Was, wenn jemand Gwen oder Len ein Foto von mir zeigte, um die mysteriöse Frage nach der Taschenlampe zu klären?
Würde ein Groschen
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