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Der Preis des Schweigens

Der Preis des Schweigens

Titel: Der Preis des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beverley Jones
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Justin mich kontaktieren?
    Oder würde einer meiner uniformierten Kollegen anrufen und sagen: »Ich hätte da mal ein paar Fragen an dich?« Hatte ich das Richtige getan, indem ich die Taschenlampe manipuliert hatte? Fingerabdrücke konnte ich dabei nicht hinterlassen haben, schließlich hatte ich Handschuhe getragen. Aber was, wenn ich an jenem Abend im Wohnwagen Spuren hinterlassen hatte? Was, wenn jemandem auffiel, dass die Asservatentüte nicht mehr so aussah wie vorher? Was, wenn jemand die Dienstnummer auf der Taschenlampe bereits gesehen und notiert hatte, und sich jetzt verwirrt fragte, wie sie verschwunden sein konnte? Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht – o Gott!
    Aber die Tüte hatte auf einem Stapel mit Beweismitteln gelegen, die noch archiviert werden mussten. Es sah aus, als seien sie einfach in aller Eile vom Tatort mitgenommen und auf dem Schreibtisch abgelegt worden. Natürlich hätten sie nicht einfach so in einem unverschlossenen Büro herumliegen dürfen, aber solche Dinge passierten nun mal, wenn Polizisten nach Zwölfstundenschichten Hunger hatten und erschöpft waren, wenn sie dringend auf die Toilette mussten oder sich ein Sandwich holten. Für mich konnte das nur von Vorteil sein, denn derjenige, dem diese Nachlässigkeit unterlaufen war – vermutlich war es Bodie gewesen –, wollte bestimmt keine unnötige Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass er die Beweisstücke unbeaufsichtigt hatte herumliegen lassen.
    Während ich über die vielen Unbekannten in der Gleichung nachgrübelte, schlichen die Stunden so langsam dahin, dass ich mich an längst vergessene Winterwochenenden während meiner Kindheit erinnert fühlte, kalte graue Tage, die mir endlos vorgekommen waren.
    Der graue Winterhimmel hatte düster über unserem kleinen Reihenhaus gehangen, und die Zeit hatte sich schleichend auf das Ende eines öden, leeren Tages zubewegt, das mir als Acht- oder Neunjähriger unendlich weit weg erschienen war.
    Mein Dad saß an solchen Tagen immer in seiner alten Strickjacke mit einem Becher Tee in der Hand, Hausschuhen an den Füßen und einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen auf dem braunbeigen Sessel. Meine Mutter hingegen stand mit einem Küchentuch über der Schulter in der Küche und bewegte sich innerhalb eines engen Radius um die Küchenspüle herum, wo ständig etwas zu tun zu sein schien. Prinzessin Jennifer war unterdessen in dem winzigen Burgverlies ihres weit entfernten Zimmers gefangen, wo sie, umgeben von Büchern, auf dem sonnengelben Teppich auf dem Boden lag.
    Während solcher Nachmittage verging die Zeit immer langsamer und langsamer, bis sie schließlich ganz zum Stillstand kam. Es war so ruhig im Haus, dass man die Heizungsrohre ticken hörte. Die Langeweile schärfte meine Sinne bis ins Unerträgliche und ließ mich auf einem Meer aus Nichtstun und Leere dahintreiben.
    Jede Kirschblüte oder tauglänzende Flügelspitze auf meiner mit Blumen und Elfen bedruckten Steppdecke trat in aller Schärfe und Klarheit zutage. Die von meinen Zehen ausgebeulten Stellen an meinen weißen Turnschuhen beschwerten sich lautstark über die Martyrien, die sie auf dem Spielplatz ertragen mussten, und die ledergebundene Bibel meiner Großmutter beklagte schrill die Unverfrorenheit, dass ich sie als Türstopper benutzte, und erzählte von gespensterhaft kalten Kirchen, wo jeder Schritt auf dem Steinboden widerhallte. Durch diesen ganzen Lärm drang der knusprig-goldene Duft von Ofenpasteten und blubberndem Bratensaft aus der Küche in meine Nase.
    Das Warten fühlte sich an, als wäre es eine weitere Person in meinem Zimmer. Warten, immer nur warten – erst auf das Mittagessen, dann auf das Abendessen und schließlich auf mein abendliches Schaumbad und die Nachtruhe. Aber ich wartete auch auf etwas Neues, darauf, älter zu werden und endlich jemand anders sein zu können.
    An diesem Abend, an dem ich als erwachsener Mensch allein in meinem Haus saß, war es genauso. Ich wartete auf eine Nachricht von Justin, auf Anrufe von der Polizei, darauf, dass die Nacht irgendwann in einen neuen Tag überging. Ich wartete auf ein neues, gefürchtetes Dasein als Star einer Porno-Website und Gegenstand einer polizeilichen Untersuchung. Mit unerträglicher Klarheit spürte ich wieder Justins Körper auf meiner Haut, den Geruch nach Staub und Kerzenwachs im Ferienhaus, die schimmelige Feuchtigkeit des Wohnwagens, die Anwesenheit des schnurlosen cremefarbenen Telefons, das das Gerät ersetzt hatte,

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