Der Preis des Schweigens
aufrichtig überrascht. »Einen anderen?« Wo war das hergekommen? Er konnte nichts von Justin wissen, oder? Wie konnte er davon erfahren haben?
»Du checkst zwanzig Mal am Tag deine E-Mails und starrst auf dein Handy. Du verhältst dich geheimnistuerisch. Wenn ich anrufe, bist du nicht da oder gehst nicht ans Telefon. Ich hinterlasse dir Nachrichten, aber du rufst nicht zurück. Daher frage ich mich, ob es vielleicht einen anderen Mann in deinem Leben gibt. Es war nicht als Vorwurf gemeint, sondern eine einfache Frage.«
»Es gibt keinen anderen Mann, Dan.«
»Wirklich nicht? Du fragst dich doch bestimmt, wie das so wäre. Schließlich hast du noch nie mit einem anderen Mann geschlafen als mit mir. Zumindest, soweit ich weiß. Vielleicht hast du ja den Eindruck, etwas zu verpassen.« Er klang verbittert.
Wie kam er denn auf diese Idee? Es war mir um vieles gegangen, aber nie um Sex, nie darum, etwas verpasst zu haben. Aber wie sollte ich ihm das erklären?
»Ich … nein. Da ist kein anderer Mann, Dan. Ganz sicher nicht.«
»Auch niemand von der Arbeit?«
»Von der Arbeit?« Er riet also wirklich nur. »Wer sollte das denn sein?«
Er zögerte. »Ich dachte, es wäre vielleicht Bodie.«
»Bodie?« Nach einem kurzen Moment der Verblüffung überwog die Erleichterung darüber, dass er Marc für den Übeltäter hielt. Aber Dan fand die Sache überhaupt nicht komisch.
»Lach mich nicht aus, Jennifer«, befahl er mir leise. Seine Stimme klang, als könnte er sich nur mit Mühe beherrschen. Dan nannte mich sonst nie Jennifer, immer nur Jen oder Süße oder Schatz. Dass er meinen vollen Vornamen verwendete, war ein sicheres Anzeichen dafür, wie ernst es ihm war.
»Ich lache nicht über dich«, versicherte ich ihm hastig. »Ich lache über die Vorstellung, dass ich und Bodie … Nein! Nein, nein und noch mal nein! Wie um alles in der Welt kommst du darauf? Ausgerechnet Bodie?«
Ich stand auf und wollte Dan in die Arme schließen, aber er wich vor mir zurück. Dass er sich mir jetzt, wo ich so verzweifelt war, entzog, war mir unerträglich. Wollte er etwa einen Rückzieher machen und mich doch nicht mehr heiraten? Das war doch eigentlich meine Domäne, oder? Ich war immer diejenige gewesen, die Zweifel hatte, aber in diesem Moment schienen meine Zweifel plötzlich ganz weit weg zu sein. In der vorletzten Nacht, als Justin mich in meinem Alptraum heimgesucht hatte, war es nicht von ungefähr Dans Name gewesen, den ich im Schlaf gerufen hatte.
»Ich habe beobachtet, wie er im Büro mit dir umgeht«, fuhr Dan fort. »›Fühl mal meine stählernen Arschbacken.‹ War es nicht so?«
Das hatte er sich gemerkt? »Aber das war doch nur …«
»Bei der Weihnachtsfeier ist er genauso um dich herumscharwenzelt, und dir schien es nicht allzu viel auszumachen.«
»Aber das war …«
Allmählich erwärmte er sich für das Thema. Seine Stimme wurde immer lauter und tiefer.
»Ist dir mal aufgefallen, dass wir seit über einem Monat nicht mehr miteinander geschlafen haben, nicht einmal bei unserem romantischen Wochenende im Hotel, das im Übrigen auch schon wieder ein paar Wochen her ist?«
Es war mir aufgefallen. Natürlich war es mir aufgefallen. In letzter Zeit ging ich jeder Situation, die eventuell zu Sex führen könnte, aus dem Weg. Nicht etwa, weil ich Dan nicht mehr begehrte – in vielerlei Hinsicht sehnte ich mich mehr denn je danach, von ihm berührt zu werden –, sondern weil jeder Gedanke an Sex die Nacht mit Justin wieder heraufbeschwor. Was ich auf dem Video gesehen hatte, hatte sich unwiderruflich in mein Gehirn eingebrannt, auch wenn ich an die Nacht selbst kaum noch Erinnerungen hatte.
Justin hatte sich in meinem Kopf und meinem Leben eingenistet, bestimmte meine Träume und suchte mich bei der Arbeit heim. Er lag zwischen Dan und mir im Ehebett und sorgte dafür, dass der Abstand zwischen uns immer größer wurde. Wenn Dan mit mir geschlafen hätte, hätte er die Frau aus dem Video geliebt, nicht mich. Und das wollte ich nicht. Ich wollte nicht, dass diese Frau in unser Haus kam, in unser Leben.
»Die letzten Wochen waren einfach wahnsinnig anstrengend, Dan«, sagte ich und versuchte, jede Aggression aus meiner Stimme herauszuhalten. »Ich schwöre dir hiermit feierlich, dass zwischen Bodie und mir nichts läuft. Sein betrunkener Auftritt bei der Weihnachtsfeier war ihm so peinlich, dass er zu mir gekommen ist und sich bei mir entschuldigt hat. Er hat sogar gefragt, ob du sauer wärst.«
»Aber er
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