Der Priester
hatte er sich jedoch nicht zurückgehalten, als seine kräftigen Arme sie an seine warme Brust drückten. Es hatte sich angefühlt, als wollte er sie nicht loslassen, und in dem Moment hätte sie am liebsten alles vergessen und wäre mit ihm ins Taxi gestiegen. Aber vielleicht hätte er auch genau da die Grenze gezogen. Irgendetwas beschäftigte ihn noch. Außerdem war es wahrscheinlich sowieso besser, es dieses Mal langsamer anzugehen. Es war nicht so, dass er nichts mit ihr zu tun haben wollte, das spürte sie. In Zukunft mussten sie einfach vorsichtig sein und allem, was mit ihrer Arbeit zu tun hatte, aus dem Weg gehen.
Später vielleicht, jetzt aber noch nicht. Als sie wieder oben war, setzte sie sich sofort an den Computer, an dem er gearbeitet hatte. Als er ging, hatte sie so getan, als ob sie ihn ausstellen würde, sie hatte ihn jedoch nur in den Ruhezustand versetzt und musste nun lediglich die Leertaste drücken, um den Monitor wieder zum Leben zu erwecken. Ein paar Anschläge später hatte sie das Protokoll aufgerufen und dann eine Liste der Artikel, die er sich im Archiv angesehen hatte. Es dauerte nicht lange, bis sie den gesuchten Bericht entdeckt hatte. Er hatte ihn gut fünf Minuten lang angestarrt, ohne daran zu denken, dass sie von ihrem Platz die Schlagzeilen aller Artikel lesen konnte, die er sich ansah.
Sie rief ihn auf. Er war von 1995, also vermutlich einer der ersten Artikel, die überhaupt in den Datenbanken waren. Er sah aus wie eine Kolumne aus einem etwas klatschorientierten, politischen Tagebuch. Solche Sachen hatten sie damals veröffentlicht, als der Herald sich noch als Mitbewerber um einen der Spitzenplätze im Wochenzeitungsmarkt gesehen hatte und nicht wie heute als Skandal-Lieferant. Es war ein kurzer, ziemlich arroganter Einwurf, der mit dem Namen Oisin MacCumhaill signiert war. Dabei handelte es sich, wenn sie sich recht erinnerte, um das Pseudonym eines damals namhaften Politikkolumnisten. Er musste allem Anschein nach ein Insider gewesen sein, der vor allem für andere Insider schrieb. Der Text steckte nämlich voller versteckter Andeutungen, Anspielungen und augenzwinkernder Scherze, die für alle, die den Hintergrund nicht kannten, böhmische Dörfer waren.
TOT , DOCH NICHT VERGESSEN ?
In tiefster Trauer haben wir alle zur Kenntnis genommen, dass einer der Letzten der Great Ones seinen Abschied aus den Rängen der Erhabenen genommen hat. Daher mag es flegelhaft erscheinen, an dieser Stelle anzumerken, dass einige sein Dahinscheiden nicht bedauern werden. Eine heldenhafte Rolle beim Aufbau unserer großen Nation ist schön und gut. Ebenso wie ein Leben, das im Zeichen von Gerechtigkeit, Gleichheit und fairen Anhörungen stand. Doch gelegentlich machen auch Helden furchtbare Fehler. So furchtbare Fehler, dass die großen Verdienste in der Vergangenheit und selbst die lebenslange Hingabe an Kirche und Staat nicht ausreichen, um die Waage ins Gleichgewicht zu bringen. Die meisten anständigen Menschen, die im August 1988 in Gweedore waren, werden es als einen Ort voller Sonnenschein, Freude und Schönheit in Erinnerung behalten. Für ein paar wenige wird es jedoch immer eine düstere Episode bleiben, die einen Höhepunkt an Scheinheiligkeit markiert und einen dunklen Fleck auf der weißen Weste eines Mannes hinterlässt, der von vielen geradezu als Heiliger angesehen wird. Gerade er hätte wissen müssen, dass die Vertuschung einer Missetat – zum Schutz der Familienehre, ergo aus Stolz – und ihre Entfernung aus den Akten alles andere als gerecht war. Und das, obwohl er doch angeblich das Gesetz so hochgehalten hat.
Siobhan starrte verwirrt auf den Bildschirm. Sie las den Artikel mehrmals und versuchte zu verstehen, was er ihr sagen wollte. Wieso um alles in der Welt hatte Mulcahy ihn so lange angesehen? Auf den ersten Blick enthüllte er absolut nichts. Es handelte sich eindeutig um eine Art Rätsel – irgendwo war ein Hinweis auf ein Ereignis verborgen, über das der Autor nicht offen sprechen durfte, vermutlich weil er Angst vor einer Klage oder einer noch weitreichenderen Strafe hatte. Dieser verdammte Mulcahy: Er war irgendetwas auf der Spur, da war sie sich sicher. Aber wenn er das recherchieren konnte, dann konnte sie das auch.
Sie scrollte wieder zum Artikelanfang. Sie wusste genau, dass er diese Seite wie eine Offenbarung angesehen hatte. Er hatte sie sogar heimlich noch einmal aufgerufen, als sie zur Toilette gegangen war, und sich so sehr in den Artikel
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