Der Prinz in meinem Maerchen - Roman
so an den Wänden aufgehängt, dass sie die verschiedenen Buchgenres an den schlichten, weiß getünchten Wänden markierten. Die Messinglampe, die Lorcans Elektriker aufgetan und am Vorabend noch schnell angeschlossen hatte, sah aus, als sei sie schon immer dort gewesen. Michelle nahm sich vor nachzuforschen, ob es davon noch mehr gäbe, um sie nebenan verkaufen zu können.
Aber auch Anna sah aus, als sei sie nie woanders gewesen, wie sie dort an der Theke lehnte und Betty und ihre Schwestern las. Anstatt der Kontaktlinsen trug sie nun ihre Lesebrille, und schaute erst auf, nachdem Michelles Absätze lautstark den halben Raum durchquert hatten. Als sie endlich aufsah, verzog sie so schuldbewusst das Gesicht, dass sich beinahe die Haarsträhnen aus ihrem Dutt gelöst hätten, den sie mit einem Bleistift improvisiert hatte.
»Tut mir leid, Michelle, ich war gerade ganz woanders.« Sie deutete auf das Buch. »Das ist so wunderbar. Als Kind habe ich es bestimmt hundertmal gelesen und immer so getan, als hätte ich auch drei Schwestern. Und langes Haar, das ich im Notfall hätte verkaufen können.«
»Gibt es eigentlich keine Kinder- oder Jugendbücher, die von Mädchen handeln, die mit nervigen Brüdern aufgewachsen sind?« Michelle zog ihr Notizbuch hervor und notierte sich: ›4.) Türklingel für Anna besorgen, um sie auf Kunden aufmerksam zu machen.‹
» Die Fünf Freunde «, erwiderte Anna plötzlich. »Julian und Dick sind Annes Brüder. Und George wäre lieber ein Junge. Welches von den March-Mädchen aus Betty und ihre Schwestern wolltest du eigentlich immer sein?«, fuhr sie fort. »Ich habe mich immer als Jo gesehen, die Bücher liebte und impulsiv reagierte, aber im Grunde herzensgut war.«
»Ich glaube nicht, dass ich das Buch gelesen habe. Wurde es verfilmt?«
»Michelle! Du hast Betty und ihre Schwestern nicht gelesen?« Anna sah sie erschrocken an.
»Nein. Ich habe dir doch schon öfter gesagt, dass ich als Kind nicht viel gelesen habe. Ich hatte Brüder! Zu Hause gab es also immer nur Flugzeug-Bausätze und Fußballzeitschriften.«
»Dann musst du es jetzt lesen. Du wirst es lieben!« Anna warf ihr das Buch zu. »Hier, ich bezahle es. Betrachte es als ein Geschenk.«
»Ich habe gar keine Zeit zum Lesen«, protestierte Michelle. »Und ich mache keine Witze – ich habe wirklich keine Zeit!«
»Das glaube ich nicht«, widersprach Anna. »Manchmal schließe ich mich sogar im Klo ein, wenn ich sonst keine Zeit finde.«
»Dann erinnere mich bitte daran, dass ich mir von dir nie Bücher ausleihe«, entgegnete Michelle und wandte sich der Auswahl von Füllern auf der Verkaufstheke zu. Aus Erfahrung wusste sie, dass es keinen Sinn hatte, einem Buchliebhaber zu erklären, warum man weder Zeit noch Lust hatte, sich stundenlang in eine Fantasiewelt zu vertiefen.
»Was machst du denn, wenn du abends nach Hause gehst?«, wollte Anna wissen, als wäre ihr diese Frage noch nie in den Sinn gekommen. »Eigentlich müsstest du doch jetzt Zeit haben, wo du nicht mehr mit meinem Hund Gassi gehst oder dazu gezwungen wirst, mit den Arbeitskollegen meines Mannes zu Abend zu essen?«
»Ich …« Michelle zögerte. Sie wollte eigentlich sagen, »Ich mache meine Buchhaltung«, doch gerade noch rechtzeitig wurde ihr klar, wie traurig dies geklungen hätte. Die weiteren möglichen Antworten lauteten: »Entweder ich putze, oder ich bügele Wäsche« oder aber »Ich gehe Joggen«, die für sich betrachtet aber auch nicht viel besser waren.
Sie schüttelte den Kopf, als habe sie zu viel vor, um es aufzählen zu können. »Ich suche neue Produktlinien für den Laden, durchforste neue Online-Boutiquen, sehe mir Design-Blogs im Internet an, schmiede Pläne fürs Geschäft, auch für das neue, und …«
Anna starrte sie an, und Michelle hatte für den schrecklichen Bruchteil einer Sekunde das Gefühl, dass in Annas Augen hinter der schwarzen Brille ein Hauch von Mitleid aufblitzte.
Das musste im Keim erstickt werden. Sie wollte nicht, dass Anna Mitleid für sie empfand.
»Wir müssen mit unseren Buchbouquets weitermachen.« Michelle griff in ihre Tasche und kramte ihr Notizbuch heraus, bevor sie zum Einpacktisch nebenan ging und dort einen Beutel mit Geschenkbändern und Schleifen holte. »Ich versuche gerade, sie dem Zeitungsherausgeber schmackhaft zu machen, damit er in seinem Blatt dafür wirbt. Such bitte fünf Bücher für jemanden aus, der mit irgendeinem nicht so ernsten Problem im Bett liegt und dem du
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