Der Prometheus-Verrat
nicht, würde er mit seinem Wissen, das er bislang zurückgehalten hatte, an die Öffentlichkeit treten. Erpressung, einfach und wirksam. Ted Waller würde darauf anspringen.
Er schloss die Tür der Abstellkammer und suchte nach einem Ausgang, der nicht an der Rezeption vorbeiführte. Minutenlang tappte er durch dunkle Kellerverschläge, ehe er einen nur selten benutzten Ausgang entdeckte, eine rostige Metalltür, die sich nur mit Gewalt öffnen ließ. Durch sie gelangte er in einen engen, gepflasterten und mit Unrat übersäten Hinterhof, in den sich allenfalls eine Ratte verirrte.
Über einen von Autos verstellten Stichweg fand er auf die Durchgangsstraße zurück, wo er in der Menge der Passanten untertauchte. In einem schäbigen kleinen Kaufhaus kaufte er sich neue Sachen, zog sich um und ließ die alten Kleidern zur Verwunderung des Verkäufers in der Umkleidekabine zurück. Im selben Geschäft erstand er außerdem noch einen Umhängebeutel, Wäsche zum Wechseln und eine billige Reisetasche.
Anschließend machte er sich auf die Suche nach einem großen, internationalen Bankhaus und kam an einem Schaufenster voller Fernsehapparate vorbei, die alle dasselbe Programm
übertrugen. Die Bilder waren ihm auf Anhieb vertraut: Er erkannte die Wahrzeichen der Stadt Genf, für die, wie es schien, Werbung gemacht wurde. Bald aber zeigte sich, dass es sich um einen Nachrichtenbeitrag handelte. Und was er dann sah, raubte ihm den Atem.
Ins Bild kam das Genfer Hôpital Cantonal. Die Kamera fuhr durch die Gänge der Notaufnahme und schwenkte über Kranke auf Tragen, über zugedeckte Tote. Dann eine grauenvolle Szene: Leichen, aufeinander gestapelt, bereit zum Abtransport. Als Untertitel wurde eingeblendet: »Genf, gestern.«
Gestern? Welche Katastrophe konnte gestern in Genf passiert sein?
Er schaute sich auf der Straße um, entdeckte einen Zeitungskiosk und sah den Aufmacher: GENF. ANTHRAX. ANSCHLAG.
Er riss ein Exemplar der International Herald-Tribune aus dem Ständer. In der Zusammenfassung unter der Schlagzeile hieß es im Fettdruck: MILZBRAND-OPFER ÜBERFÜLLEN GENFER KRANKENHÄUSER – DIE WELT STEHT VOR EINEM RÄTSEL – ERSTE SCHÄTZUNGEN GEHEN VON BIS ZU 1000 TOTEN AUS.
Mit Entsetzen las Bryson den Artikel:
GENF. Plötzlich aufgetretene Fälle einer Milzbrandinfektion haben sich zur Epidemie ausgeweitet. Immer mehr Infizierte werden in die Krankenhäuser und Kliniken der Stadt eingeliefert. Nach ersten Schätzungen sind an die 3000 Personen von dem tödlichen Erreger befallen, davon schweben 650 bereits in Lebensgefahr. Die Krankenhausverwaltungen haben Notprogramme zur Versorgung der Patienten aufgelegt, da in den nächsten 48 Stunden mit einem dramatischen Anstieg an Erkrankungen zu rechnen ist. Geschäfte, Schulen und Ämter blieben auf Veranlassung der Stadt geschlossen. Touristen und Geschäftsreisenden wird empfohlen, bis auf weiteres von einem Besuch der Stadt abzusehen. Bürgermeister Alain Prisette drückt sein Entsetzen und seine Trauer aus, mahnt aber alle Bürger und Besucher der Stadt zur Besonnenheit.
Seit gestern früh füllen sich die Krankenhäuser mit Patienten, die über grippeähnliche Symptome klagen. Schon gegen fünf Uhr wurde im Hôpital Cantonal in über einem Dutzend Fällen Anthrax diagnostiziert. Am Mittag war die Zahl der Betroffenen bereits auf über 1 000 angestiegen.
Spezialisten sind rund um die Uhr im Einsatz, um dieser rätselhaften Massenerkrankung auf den Grund zu gehen. Amtliche Stellen beteiligen sich ausdrücklich nicht an Spekulationen über Berichte, wonach ein Lastkraftwagen durch die Stadt gefahren sein und mit einer Sprühvorrichtung Wolken von Krankheitserregern ausgestoßen haben soll.
Milzbrand verläuft in rund 90 von 100 Fällen tödlich. Nach einer Ansteckung kommt es schon bald zu ernsten Atembeschwerden, gefolgt von Schocksymptomen, worauf sich häufig schon nach 36 Stunden der Tod einstellt.
Zwar lässt sich Lungenmilzbrand mit wiederholten Gaben von Penizillin behandeln, doch damit ist es nicht getan. Um nicht selbst angesteckt zu werden, ist das Krankenhauspersonal zur äußersten Vorsicht aufgerufen. Milzbranderreger können über Jahrzehnte latent aktiv bleiben.
Während staatliche Einsatzkräfte die Suche nach der Infektionsquelle fortsetzen, rechnet die Gesundheitsbehörde damit, dass sich die Epidemie bis zum Wochenende auf mehrere 10 000 Personen erstrecken wird.
Es drängt sich die Frage auf: Was hat es mit dieser Seuche auf sich? Warum
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