Der Prometheus-Verrat
Psychologe durchaus gute Arbeit leistete. Seine an der Universität von Berkeley vorgelegte Promotionsarbeit über neue Methoden zur Erhebung psychischer Profile hatte Experten aus Geheimdienst-kreisen auf ihn aufmerksam gemacht. »Wir haben es mit einem Kind zu tun, das, kaum hat es sich irgendwo eingerichtet, wieder fortziehen muss. Von heute auf morgen und ganz ohne Vorwarnung. Und doch gelingt es ihm, sich nach jedem Ortswechsel in eine fremde Kultur einzuleben, eine neue Sprache beziehungsweise einen neuen Dialekt und neue Umgangsformen zu erlernen. Der Junge orientiert sich nicht an den Kollegen seines Vaters in der Kaserne, sondern an den Einheimischen, wahrscheinlich in Person der Dienstboten seiner Eltern. Schon vier Monate nach seiner Ankunft in Bangkok kann der Achtjährige fließend und akzentfrei Thailändisch sprechen. Erst kurze Zeit in Hannover, geht er unter seinen neuen Klassenkameraden als Deutscher durch. So lernt er auch Italienisch, Chinesisch, Arabisch, ja, sogar Baskisch, und zwar nicht nur die jeweilige Hochsprache, sondern auch die regionalen Mundarten, sowohl das, was auf dem Spielplatz gesprochen wird, als auch das Idiom der Nachrichtensprecher. Am Ende beherrscht er jede Sprache wie ein Muttersprachler. Er ist ein menschliches Chamäleon mit einer erstaunlichen Fähigkeit, sich seiner sprachlichen Umgebung anzupassen.«
»Er hat nachweislich überragende schulische Leistungen erbracht und zählte stets zu den Besten seiner Klasse«, ergänzte Terence Martin und verteilte eine Zusammenfassung
der Recherchen in der Tischrunde. »Überdurchschnittlich intelligent und sportlich. Ein Paradebeispiel für besondere Begabung. Während seiner Pubertät kam es dann allerdings zu einer Art Einbruch.« Mit einem Kopfnicken gab Martin das Wort an Wollenstein zurück.
»Mit der Anpassungsfähigkeit hat es eine merkwürdige Bewandtnis«, sagte Wollenstein. »Wir sprechen vom code switching , wenn Kinder mehrsprachig aufwachsen und sich mühelos mal in der einen, mal in der anderen Sprache verständlich machen können. Problematisch wird es erst, wenn sich die Anpassungsfähigkeit auch auf den Wechsel zwischen verschiedenen Wertesystemen und Moralbegriffen bezieht. Die Attribute ›anpassungsfähig‹ und ›haltlos‹ liegen nicht weit voneinander entfernt, und die Grenze zwischen ihnen ist fließend. Wir glauben, dass sich in Brysons Entwicklung nach dem tragischen Unfalltod seiner Eltern eine entscheidende Wende vollzogen hat. Er war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt und sehr empfänglich für alle möglichen Einflüsse. Seine natürliche jugendliche Aufsässigkeit wurde manipuliert und von Kräften ausgenutzt, die uns feindlich gesinnt sind und ihn in einen sehr gefährlichen Mann verwandelt haben – einen Mann mit vielen Gesichtern. Einen Mann, der einen tief empfundenen Groll hegt gegen alles, was einst seine Kindheit geprägt hat. George Bryson hatte sein Leben in den Dienst unseres Landes gestellt. Der Sohn gab nun der US-Regierung indirekt die Schuld am Tod seines Vaters. Und ihn, den Sohn, zum Feind zu haben, ist in der Tat gefährlich.«
Martin räusperte sich. »Und leider können wir uns unsere Feinde nicht aussuchen.«
»Er aber scheint uns ausgesucht zu haben.« Wollenstein legte eine Pause ein. »Wie auch immer, Brysons geniale Fähigkeit, sich an wechselnde Verhältnisse anzupassen, grenzt, wie wir meinen, an eine schizophrene Persönlichkeitsstörung. Mein Team und ich sind überzeugt davon, dass sich unter diesem Gesichtspunkt viele seiner Eigenarten erklären lassen. Wir haben es jedenfalls nicht mit einer Person von festen Gewohnheiten und markanten Zügen zu tun. Vielmehr ließe
sich Nicholas Bryson gewissermaßen als ein Ein-Mann-Syndikat kennzeichnen.«
»Wie gesagt, Bryson ist ungemein gefährlich«, schaltete sich Martin wieder ein. »Wir wissen, dass er mit einer Organisation zu tun hat, die sich als Direktorat bezeichnet. Einer seiner Decknamen ist ›Coleridge‹. Wir wissen, dass er extrem gut ausgebildet ist …«
»Na bitte«, unterbrach Lanchester. »Er hat auch mir gegenüber von einem Direktorat gesprochen und gesagt, dass er es unschädlich zu machen versucht.«
»Typisch. So lenkt man von sich ab«, sagte Corelli. »Womöglich ist er der Kopf des Direktorats.«
Terence Martin öffnete einen großen braunen Briefumschlag und zog einige Fotos daraus hervor, die er herumreichen ließ. »Manche sind ziemlich grobkörnig. Sei’s drum, es handelt sich um Aufnahmen
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