Der Protektor von Calderon
»Komm schon, Cyril, du weißt schon seit dem Tag, an dem du mich kennen gelernt hast, dass ich nicht Rufus Scipio bin.«
Die Falten auf Cyrils Stirn vertieften sich. »Ja. Ich habe vermutet, dass du ein Kursor der Krone bist, so wie die Schlacht an der Elinarcus ausgegangen ist. Und angesichts dessen, was du seitdem geleistet hast.«
»Ich bin tatsächlich ein Kursor«, sagte Tavi. »Doch das ist noch nicht alles. Du dürftest inzwischen selbst die Gerüchte gehört haben. Über mich und über meinen Singulare, Araris.« Tavi hielt kurz inne. »Den Araris. Araris Valerian.«
Cyril starrte Tavi an. Er öffnete leicht die Lippen.
»Aus diesem Grund habe ich sie heute dazugebeten«, fuhr Tavi fort und deutete auf Isana. »Warum hätte ich wohl sonst so offen in ihrer Anwesenheit geredet?«
Tavi wandte sich ihr zu, und Isana spürte seine Furcht und Enttäuschung, seinen Zorn und noch etwas anderes, etwas Tiefsitzendes, Mächtiges, Entsetzliches, für das es kein Wort gab. Es war eine Art Verwunderung und Hochstimmung - und gleichzeitig Schrecken und Angst.
Das hatte Isana schon einmal gespürt, vor langer Zeit. Tränen raubten ihr die Sicht, als die Erinnerung plötzlich zum Leben erwachte. Oh, Septimus. Ich vermisse dich so sehr. Und du wärest so stolz in diesem Augenblick.
Sie wandte sich Ritter Cyril zu und blinzelte, bis die Tränen fielen. Der ältere Mann gaffte Tavi mit offenem Mund und aufgerissenen Augen an. Unglauben vermischte sich mit Erkenntnis, alte Sorge mit plötzlicher Hoffnung. »Wie heißt du wirklich?«, flüsterte er.
Tavi erhob sich langsam und hob sein Kinn. »Ich heiße«, sagte er leise, »Gaius Octavian.« Er trat vor, ging auf ein Knie, auf Augenhöhe mit Cyril. »Ritter Cyril, ich vertraue dir. Deshalb lege ich mein Leben« - er deutete mit dem Kopf auf Isana - »und das meiner Mutter in deine Hände.«
Cyril starrte Tavi an. Alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen. Sein Mund bewegte sich, ehe er sich zu Isana drehte. »Deine … deine Mutter?«
Isana schluckte. Jetzt verstand sie, warum Tavi sie dazugebeten hatte. Damit sie ihn unterstützte. Schließlich war sie so ungefähr die einzige Person auf der Welt, die dazu in der Lage war.
Eine panische Stimme in ihr riet ihr lauthals, alles zu leugnen. Ohne Bestätigung durch Isana würde Tavis Geschichte wie eine wilde, verzweifelte Lüge klingen. Sie musste ihn verstecken. Sie musste ihn beschützen. Sie musste …
Isana wehrte sich gegen diese Stimme der Panik, gegen ihre Angst.
Die Zeit der Lügen war vorbei. Die Zeit des Versteckspiels.
Wortlos langte sie nach der schmalen Kette, die sie um den Hals getragen hatte, seit sie vor Jahren das Calderon-Tal verlassen hatte und nach Alera Imperia aufgebrochen war. Sie öffnete den Verschluss und holte sie unter ihrem Kleid hervor. Der elegante Silberring mit dem scharlachroten und dem azurfarbenen Stein, die sich nahtlos in der Mitte vereinten, fing das Licht auf, funkelte und warf helle, bunte Feuerpunkte auf Cyrils Schreibtisch.
Sanft legte Isana den Ring auf die Platte und faltete die Hände im Schoß. »Dieser Ring wurde mir von meinem Gemahl, Princeps Gaius Septimus, geschenkt«, erzählte Isana, »am Tag unserer Hochzeit, vielleicht zehn Monate vor seinem Tod.« Sie erhob sich, stellte sich hinter Tavi, blickte Cyril ins Gesicht und hob ebenfalls das Kinn. »Dies ist unser Sohn, Octavian. Er wurde in der Nacht der Ersten Schlacht von Calderon geboren, in der gleichen Nacht, in der sein Vater fiel.«
Cyril starrte sie an. Dann den Ring. Er streckte die zitternde Hand nach dem Schmuckstück aus.
»Das Abzeichen seines Siegeldolchs ist innen eingraviert, unter den Steinen«, sagte Isana leise. »Den Dolch hat er mir ebenfalls hinterlassen. Er befindet sich in der Truhe in meinem Zimmer.«
Der Ring fiel Ritter Cyril aus den Fingern und landete auf dem Tisch.
Cyril schüttelte den Kopf. »W-wie kann das sein?«
Tavi, der noch immer ein Knie gebeugt hatte, drehte sich um und sah Isana an. Eine Sekunde lang war er wieder da, der Junge, auf den sie aufgepasst hatte, den sie ernährte, für den sie sorgte, den sie liebte. Und den sie belogen hatte. Die großen Elementare mochten ihr helfen: Wenn sie ihn weiterhin hätte verstecken können, so hätte sie es getan.
Araris hatte recht gehabt. Er verdiente die Wahrheit.
Sie erwiderte den Blick ihres Sohnes. »Was nur wenige wissen«, berichtete Isana und bemühte sich um eine feste Stimme und klare Worte, »ist die Tatsache,
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