Der Puppenfänger (German Edition)
Polizeiwache an der Georgstraße in Lingen eingeworfen, und eigentlich interessierte es ihn nicht, ob man ihm das glaubte oder nicht. Als er das Schreiben aufgesetzt hatte, war er noch davon ausgegangen, es könnte ihm gelingen, nach den Morden an Laxhoff und Schöllen weiterzuleben, als wäre nichts Besonderes geschehen. Das hatte er so lange gedacht, bis er in der Nacht, in der er Laxhoffs Leiche abgelegt hatte, einen Unschuldigen überfahren und getötet hatte …
Dieter beobachtete Orthes, wartete darauf, dass er weitersprach, und dachte an all die anderen Straftäter, die er schon vernommen hatte. Zu einigen von ihnen hatte er sofort den richtigen Draht gefunden, zu anderen mit etwas Mühe, aber es hatte auch Beschuldigte gegeben, bei denen es ihm nicht gelungen war, eine Verbindung herzustellen.
»Sie ist meine Verlobte.«
Dieter stutzte. Alexandra Rosenbring lebte nicht mehr, und Thomas Orthes nannte sie seine Verlobte. »Sie und Alexandra waren verlobt?«, fragte er vorsichtig, mit der Betonung auf dem Wort waren , während er die einzelnen Informationen noch einmal sortierte, um sie zu einem einheitlichen Bild zusammenzusetzen.
Orthes stierte auf die Tischplatte und erklärte mit einer Bissigkeit, die Dieter zuvor nicht an ihm wahrgenommen hatte: »Alexandra und ich sind verlobt. Daran hat auch ihr Tod nichts verändert.«
»Ich verstehe, Herr Orthes«, sagte Dieter. Er hatte die Tür zum Innenleben seines Gegenübers einen Spaltbreit geöffnet, registrierte er fast triumphierend. Hinter dessen vermeintlich zuvorkommender Art verbargen sich Erbitterung, Verzweiflung und Trauer.
»Wann erfuhren Sie, dass Schöllen und Laxhoff die Männer sind, die Ihre Verlobte vor nunmehr fast zwanzig Jahren misshandelten und vergewaltigten?«
»Alexandras Schwester Christina rief mich an«, erklärte Thomas. »Ihr war im Schwimmbad der obere Teil einer Tätowierung auf dem Rücken eines Mannes aufgefallen, die sie aus Alexandras Bildern kannte. Christina hat diesen Mann angesprochen und gefragt, wo er sich das Motiv habe stechen lassen. Darauf hat er sehr unwirsch reagiert.«
Thomas Orthes lehnte sich zurück und schloss die Augen. Christina war sehr aufgeregt gewesen. Ihre Angst war durchs Telefon zu ihm gekrochen, aber er hatte das Zittern in ihrer Stimme überhört und gehofft, es würde alles gut werden. Eine Stunde später waren sie und ihre Kinder tot gewesen, und auch dafür trug er die Schuld. Er setzte sich kerzengerade auf und zupfte nervös abwechselnd mit Daumen und Zeigefinger an dem weißen Baumwollstoff seines linken und rechten Handschuhs. »Ich habe auf Christina gewartet, Stunde um Stunde«, erklärte er. »Irgendwann kam Herr Heidmann und sagte mir, dass Christina und ihre Mädchen tödlich verunglückt waren.«
Diesen Moment, auch den Ausdruck der Trauer und der Verzweiflung in Volkers Gesicht, würde er niemals vergessen. Aber er hatte sofort gewusst, dass der Unfall nicht durch Christinas Nachlässigkeit geschehen sein konnte. Sie war immer eine umsichtige Autofahrerin gewesen und hatte seit längerer Zeit keine Medikamente mehr einnehmen müssen.
Thomas Orthes griff nach seiner Tasse, nippte an seinem Kaffee und stellte sie wieder zurück, ehe er erklärend fortfuhr: »Kurze Zeit später erfuhr ich, eine Zeugin habe ausgesagt, Christinas Auto sei von der Straße gedrängt worden. Aber es gab keine aussagekräftigen Beweise, die darauf hindeuteten, dass tatsächlich ein zweites Fahrzeug in den Unfall verwickelt gewesen war. Also machte ich mich auf die Suche nach dem Tätowierten.« Er hatte jede freie Minute im Schwimmbad verbracht, und irgendwann hatte der Mann neben ihm unter der Dusche gestanden. Alexandra hatte das Tattoo in ihren Zeichnungen dermaßen exakt dargestellt, dass ihm schlecht geworden war, als er es auf Schöllens Körper entdeckt hatte. Er war zur Toilette gestürzt und hatte gekotzt, bis sein Magen leer gewesen war.
»Beschreiben Sie mir bitte die Tätowierung«, bat Dieter und räusperte sich. Er blickte auf, sah Michel an und fand in der Miene seines Kollegen die gleichen Gefühle, die auch in ihm gegeneinander ankämpften. Entsetzen und Unverständnis über die Verbrechen, deren Thomas Orthes sich beschuldigte, führten Krieg gegen das Mitleid mit einem Mann, dem das Schicksal den Boden unter den Füßen weggerissen hatte.
»Das Tattoo zeigte ein schwarz bestrumpftes Damenbein, am Fuß einen knallroten Pumps. Die Spitze des Schuhs wies auf Schöllens Steiß. Dass der
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