Der Puppenfänger (German Edition)
verschieden breite Schubladen mit glänzenden Messinggriffen und rechteckigen, akkurat beschrifteten Schildchen. Marianne Wanner und Thomas Orthes standen vor einer imposanten, mit Schnitzereien verzierten Schiebetür, die in einen Nebenraum führte. Sie unterhielten sich leise und brachen das Gespräch erst ab, als Heide den Raum durchschritten hatte und vor der Verkaufstheke stehen blieb.
»Sie verbringen Ihren Arbeitstag in einem beeindruckenden Ambiente«, sagte sie, nachdem Thomas Orthes die verlangten Schmerztabletten aus einer der schmucken Schubladen genommen hatte.
»O ja! Die Apotheke ist seit mehr als hundertzwanzig Jahren im Familienbesitz«, bestätigte er mit einer ruhigen, angenehm klingenden Baritonstimme und einem sparsamen Lächeln.
»Dann haben Sie die wunderschönen Schränke und die Wandverkleidung wohl ihrem Urgroßvater zu verdanken?«
Marianne Wanner räusperte sich nervös und korrigierte. »Es war mein Ururgroßvater.« Sie räusperte sich ein zweites und ein drittes Mal, ehe sie zittrig fortfuhr: »Sie haben sich um eine Generation verschätzt. Es war mein Ururgroßvater, der sich in Holte als Apotheker niederließ. Mein Neffe führt das Geschäft in der fünften Generation.«
Heide, die damit beschäftigt gewesen war, die Geldbörse in den Tiefen ihrer Handtasche zu suchen, hielt inne, blickte auf und fragte sich, wer oder was diese selbstsichere, attraktive Frau in eine Gemütslage gebracht haben konnte, die sie fast am Sprechen hinderte. Marianne hatte sich, die Arme fröstelnd vor der Brust verschränkt, neben ihren Neffen gestellt. Während Heide sie anschaute, zog sie sich ihr Schultertuch enger um den Oberkörper und verknotete die Enden vor der Brust. Heide registrierte, dass Frau Wanner einen Trauring auf dem Mittel- und einen auf dem Ringfinger trug. Das ließ den Schluss zu, dass sie verwitwet war.
»Haben Sie noch einen weiteren Wunsch?«, fragte Thomas Orthes.
»Kamillentee – bitte«, erwiderte Heide, um den Einkauf zu verlängern. Erst als der Apotheker ihr den Tee reichte, fiel ihr auf, dass seine Hände in weißen Baumwollhandschuhen steckten, die sich optisch fast nahtlos an seinen schneeweißen, gestärkten Kittel anschlossen. Möglicherweise litt der Arme an einer Allergie oder an einer Hautkrankheit. Heide löste ihren Blick von den Handschuhen, schaute erst Herrn Orthes aufmerksam an, anschließend seine Tante und suchte in ihren Gesichtern, in Gestik und Körperbau nach einer Familienähnlichkeit. Sie stellte fest, dass es keine gab. Marianne überragte ihren Neffen um mehr als einen halben Kopf, und obwohl man sie durchaus als schlank bezeichnen konnte, wirkte sie neben dem zierlichen, feingliedrigen Mann beinahe rundlich. Sie blickte Heide aus blaugrauen, müde wirkenden Augen aufmerksam an und verzog ihre hellrosa geschminkten Lippen zu einem Lächeln, das lediglich bis in die Fältchen rund um ihre Mundwinkel reichte.
*
Nachdem Heide die Apotheke verlassen hatte, griff Marianne Wanner zum Telefon. »Und?«, fragte sie, als die Verbindung hergestellt war. »Siehst du sie, Renate?«
»Ja, ich sehe sie. Tante Martha sitzt bei ihr im Auto. Ich denke, sie wird Martha nach Hause fahren. Warum macht sie das, Marianne?«
»Kannst du dir das nicht denken?«
»Sie will Martha aushorchen. Dagegen muss man was unternehmen.«
»Dagegen kann man nichts unternehmen.«
»Vielleicht sollte ich mit Tante Martha sprechen und ihr sagen …« Renate Lübhein überlegte. »Ich werde ihr sagen, dass es das Beste ist, wenn wir die Vergangenheit ruhen lassen und sich jeder um seine eigenen Angelegenheiten kümmert.«
»Martha lässt sich nicht den Mund verbieten, Renate. Das weißt du ebenso gut wie ich«, seufzte Marianne Wanner.
»Damit wirst du recht haben.«
»Gehst du heute Nachmittag mit Simone joggen?«
»Ja!«
»Versprichst du mir, ihr nicht zu erzählen, dass die Detektivin Tante Martha nach Hause gefahren hat?«
»Ja, wenn du mich drum bittest.«
»Ich möchte nicht, dass Simone sich unnötig Sorgen macht. Die Situation ist ohnehin schwierig genug für sie.«
»Ich verspreche es dir«, stimmte Renate Lübhein zu.
*
Als Heide in ihr Auto stieg, bemerkte sie, dass die Bäckersfrau hinter der Schaufensterscheibe stand, telefonierte und sie dabei beobachtete. Na bitte, dachte sie zufrieden. Die Dorftrommeln schlagen bereits den Takt und machen ordentlich Lärm. Mal gucken, wen sie zum Tanzen bringen.
»Meine Güte, hat das lange gedauert«, empfing Tante
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