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Der Puppenfänger (German Edition)

Der Puppenfänger (German Edition)

Titel: Der Puppenfänger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joana Brouwer
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über die Grünfläche. Ich habe beobachtet, dass Bine stets als Erste oben ist. Sie klettert flink die Stufen hinauf, während Suse den Berg hochrobbt. Ohnehin ist Bine ihrer Schwester stets einige Schritte voraus. Sobald ich die Terrassentür öffne, rennen beide im Gleichklang nebeneinander ins Freie. Auf dem Rasen hat Bine bereits einen Meter Vorsprung. Weil sie ihre Schwester einholen möchte, schreit Suse häufig und ruft: »Halt an, Bine, halt an.« Von diesem Geschrei lässt Bine sich nicht beeindrucken. Doch sobald Suse stolpert und fällt, bleibt sie augenblicklich stehen und wartet, bis ihre Schwester sich aufgerappelt hat. Dauern ihr Suses Bemühungen zu lange oder weint sie zu erbärmlich, marschiert Bine zurück. Sie tröstet ihre Schwester in diesem – mir unverständlichen – Kauderwelsch und hilft ihr auf die Beine. Nach Suses Sturz bewegen sie sich nur einen kurzen Augenblick auf gleicher Höhe, laufen lediglich einige Zehntelsekunden im Gleichschritt. In diesen Momenten weiß ich sicher, dass Suses Seele Deiner ähnelt und Bine nach mir kommt. Auch ich hätte Dir helfen müssen, nachdem Du gestrauchelt warst. Ich hätte wissen müssen, dass Dir die Kraft zum Aufstehen fehlte. Verzeih mir!
    In Liebe Deine Christina
    Marianne legte den Brief zur Seite, als Volker das Esszimmer betrat. Er hielt ein vollbepacktes Frühstückstablett in den Händen und stellte es auf dem Esstisch ab. Als er sah, dass sie geweint hatte, nahm er ein Taschentuch aus der Brusttasche seines Jacketts und reichte es ihr.
    Marianne bemühte sich um ein Lächeln. Sie kannte Volker fast fünfzig Jahre. Er war der beste Freund ihres verstorbenen Mannes gewesen und hatte ihr so manches Mal in schweren Zeiten beigestanden. »Seit wie vielen Jahren leihst du mir diese weißen Damasttücher?«, fragte sie.
    »So lange ich lebe, mein Liebes, werde ich für dich stets ein frisch gebügeltes bei mir tragen.«
    »Wundert deine Zugehfrau sich nicht über deinen enorm großen Bedarf?«, versuchte sie zu scherzen.
    »Es überrascht sie, dass die Tücher ständig auf merkwürdige Weise verschwinden und ich alle paar Wochen neue kaufen muss«, erwiderte Volker und dachte, dass es weniger schmerzhaft war, ihre Tränen zu sehen, als das gequälte, nur ihm zuliebe aufgesetzte Lächeln, das nicht bis in ihre Augen reichte. Früher war sie eine lebenslustige, temperamentvolle Frau gewesen. Ihre wundervolle Altstimme hatte das Haus und den Garten mit den herrlichsten Liedern erfüllt. Pausenlos war sie in Bewegung gewesen, hatte sich und allen anderen bewiesen, dass auch die Schritte, die man notwendigerweise machen musste, um sich fortzubewegen, in einen Tanz verwandelt werden konnten.
    Seitdem ihre Enkelkinder verunglückt waren, wirkte sie oft wie erstarrt und die ihr eigene Heiterkeit wurde verdeckt von einem Schleier, den ihr das Schicksal aus Melancholie gewoben hatte. Nur selten gelang es Volker, diesen Schleier anzuheben, und in wenigen glücklichen Momenten entdeckte er darunter die Lebensfreude, die er so sehr an ihr liebte. Er war bei Gott nicht abergläubisch, doch ab und an überkam ihn der Gedanke, auf Mariannes Leben laste ein Fluch. Den frühen Tod ihres Mannes hatte man durchaus als Schicksalsschlag bezeichnen dürfen, aber nicht das Unglück, das anschließend über sie und ihren Sohn Richard hereingebrochen war. Dafür musste man Verbrecher verantwortlich machen, die ihrem Umfeld menschliche Gesichter zeigten. Dabei waren sie Bestien, die er täglich verfluchte und inbrünstig verabscheute. Erst durch Mariannes Leid war ihm bewusst geworden, dass er imstande war, einen bohrenden, abgrundtiefen Hass zu fühlen, der bis in den schwärzesten Winkel seiner Seele reichte.
    Eine Gänsehaut bedeckte Mariannes Arme und zog bis über den Rücken. Sie fror plötzlich erbärmlich und meinte sicher zu wissen, dass die junge Frau, die soeben im Schritttempo mit ihrem Golf am Haus vorbeigefahren war, ihr und auch ihrem Sohn Richard Unheil bringen würde. Sie erhob sich, ging zum Tisch, betrachtete die Vase, in die Volker sein wöchentliches Blumengeschenk gestellt hatte, und dachte, dass er der gütigste und fürsorglichste Mann war, den sie kannte. Seine Komplimente wärmten ihre Seele und stärkten ihr Selbstbewusstsein. Sie deckte das Geschirr auf, schob die Vase mit dem Strauß in die Tischmitte und bat Volker Platz zu nehmen. Ehe sie sich zu ihm setzte, griff sie nach der Teekanne, schenkte ein, stellte die Kanne zurück auf ein

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