Der Puppenfänger (German Edition)
Lupe genommen zu werden. Eines weiß ich allerdings. Er gehört zu den Menschen, die in erster Linie kopfgesteuert reagieren. Er ist ein Taktiker, ein Stratege …«
»Dagegen ist nichts zu sagen. Das allein macht ihn nicht verdächtig.«
»Nein, sicherlich nicht! Dagegen ist grundsätzlich nichts zu sagen. Möglicherweise kann ich ihn besser einschätzen, sobald ich seine Mutter kennengelernt habe.«
»Das könnte sein«, stimmte Michel ihm zu. »Richard Wanner wirkte mindestens zehn Jahre älter, als er tatsächlich ist.«
»Ja«, bestätigte Dieter. »Und du siehst aus, als würde dir eine Mütze Schlaf guttun.« Er schloss den Wagen auf und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. »Ich schlage vor, du nutzt unsere Fahrt nach Holte, um ein kleines Nickerchen zu machen.«
»Ich habe mich erst nach Mitternacht hingelegt und bin seit halb fünf auf den Beinen«, erwiderte Michel, als sie auf die Lingener Straße abbogen. Er hatte seine Tochter Jenny viel zu zeitig wecken müssen, ihr ein Frühstück zubereitet und sie bei seiner Schwester Natalie abgeliefert, die sie gegen acht Uhr zur Schule bringen würde. Auf dem Weg zu seiner Schwester war er gezwungen gewesen, mit der ansonsten lammfrommen Zehnjährigen eine äußerst unangenehme Auseinandersetzung zu führen. Sie hatte partout nicht einsehen wollen, dass die versprochene Shopping-Tour, die eigentlich für den Nachmittag geplant gewesen war, vertagt werden musste.
»Laut Dr. Ulrich war Laxhoff seit mindestens zwei Tagen tot, als man ihn auffand. Jetzt frage ich mich natürlich, wo befand sich die Leiche, ehe sie gefunden wurde?«, sagte Dieter, als er bemerkte, dass Michel nicht schlief, sondern mit weit aufgerissenen Augen durch die Windschutzscheibe auf die Straße schaute. »Wurde sie etwa zwischengelagert? Wenn ja, weswegen reagiert Laxhoffs Mörder auf diese Weise? Muss ihm nicht daran gelegen sein, die Leiche so schnell wie eben möglich loszuwerden? Gehen wir einmal davon aus, dass Schöllen seinen Bruder tatsächlich ermordet hat! Wo hielt Schöllen sich dann ab Montagmorgen auf? Warum parkt er den Wagen praktisch vor unserer Nase in der Meppener Innenstadt? Hat er die Leiche seines Bruders mehrere Tage im Kofferraum seines Autos aufbewahrt? Ganz gleich, wie ich es drehe und wende, überall entdecke ich Ungereimtheiten, die ich möglichst schnell beseitigt haben möchte.«
»Exakt«, stimmte Michel zu. »Insgesamt betrachtet wirkt die Spurenlage, als habe ein Idiot im Affekt gehandelt und absolut kopflos agiert. Nach dem, was ich über Schöllen erfahren habe, kann man ihm einiges nachsagen, aber mit Sicherheit nicht, dass er dumm ist.«
»Das sehe ich genauso.«
»Fingierte Spuren? Wer weiß, möglich ist es. Da stellen sich gleich neue Fragen. Wer hat Interesse daran, Schöllen zu belasten? Und wo befindet sich Schöllen jetzt? Ist er überhaupt noch am Leben?«
Michel brachte seinen Sitz in die Liegeposition. Er schloss die Augen, lehnte sich zurück und betete erfolglos einige Minuten Schlaf herbei. Sobald der Dienstplan überraschend auf den Kopf gestellt wurde, fielen seine gut durchdachten Planungen − was Kind und Haushalt anbetraf − auseinander wie ein Kartenhaus im Luftzug. In dieser Hinsicht erging es ihm wie den unzähligen anderen alleinerziehenden Müttern oder Vätern. Doch darüber wollte er sich nicht beklagen. Er war dankbar, dass Jenny nicht in Barbaras Kleinwagen gesessen hatte, als sie auf der B 213 bei Haselünne unter einen Lastwagen gerast war. Das Schicksal hatte ihm wenigstens sein Kind gelassen. Richard Wanner hingegen hatte bei einem Verkehrsunfall nicht allein seine Frau, sondern auch seine beiden Töchter verloren. Jenny hatte herzzerreißend geweint, als er sie heute Morgen bei seiner Schwester zurückgelassen hatte. War dieser Fall erst zu den Akten gelegt, würde er mit ihr bei Bolle Jan in Denekamp Pfannkuchen essen. Jenny mochte sie am liebsten, wenn sie dick mit Marmelade bestrichen waren.
*
Eine merkwürdige, befremdliche Unruhe hatte bereits am Sonntagabend von Heide Besitz ergriffen und sie auch nicht losgelassen, als sie vor ihrer Staffelei gestanden hatte, um Celias Geburtstagsgeschenk den letzten Schliff zu geben. Deswegen hatte sie sich gleich morgens auf den Weg nach Holte gemacht. Beates Elternhaus, das sie am Donnerstag noch freundlich im strahlenden Sonnenschein empfangen hatte, lag jetzt finster und abweisend inmitten einer dicht bepflanzten, moosgrünen Oase. Dunkle Wolken hingen schwer unter
Weitere Kostenlose Bücher