Der Rache kaltes Schwert - Crombie, D: Rache kaltes Schwert - And Justice there is None
musterte das Gesicht im Spiegel und fragte sich, wieso man ihm nichts ansehen konnte. Wie konnte ein Mensch weiter
so normal und gewöhnlich aussehen, wie konnten Muskeln, Haut und Knochen eine so undurchdringliche Schale bilden, hinter der die innere Verwüstung unsichtbar blieb? Nichts hatte ihn auf diese Erfahrung vorbereiten können – nicht einmal Angel.
Es war Jahre her, dass er zuletzt an sie gedacht hatte; er hatte den Verlust abgetan, so wie den der Familie und der Kindheit, die er längst verleugnete. Hätte sie gelacht, wenn sie ihn jetzt hätte sehen können? Nichts von alldem, was ihm wertvoll erschienen war, hatte noch irgendeine Bedeutung für ihn, und zu spät ging ihm der Wert jener Dinge auf, die er zu wenig geschätzt hatte.
Der Tod hatte ihm Dawns physische Präsenz genommen, ihr Verrat hatte ihm seine Erinnerungen an sie gestohlen. Und nicht nur sie hatte er verloren, sondern auch seinen Traum von der Fortdauer seiner Existenz, den Traum von Bluts- und Geistesverwandtschaft, von einem Vermächtnis für die Zukunft. Sie hatte ihm auch Alex weggenommen.
Er schaltete die Lichter aus und ging langsam die Treppe hinunter, hinaus in die kalte Luft, die seine Lungen durchbohrte wie ein stechender Schmerz.
»Sieh mal, es schneit.« Kincaid war hereingekommen, nachdem er Geordie ein letztes Mal in den Garten gelassen hatte. Sie hatten die Jungs unter heftigen Protesten von Kit ins Bett geschickt, und Tess war mit ihnen nach oben gegangen.
Gemma trat an seine Seite, und er legte ihr den Arm um die Hüfte. Der Garten war jetzt von einem weißen Schleier aus wirbelnden Flocken verhüllt. »Ich kann es gar nicht glauben«, murmelte sie und legte den Kopf an seine Schulter. »Ich kann mich nicht erinnern, dass es je am Heiligabend geschneit hätte, genau wie in der Geschichte, die du vorhin vorgelesen hast.«
»Wunderschön, nicht?«
Kincaid hatte ihnen nach dem Abendessen die »Weihnachtserinnerungen« von Thomas vorgelesen und seine Freude am Klang der Worte hielt unvermindert an.
»Kennst du die Geschichte ganz auswendig?«
»Inzwischen nur noch bruchstückhaft. Früher habe ich sie mal ganz gekonnt.« In seiner Familie hatten sie am Heiligabend nicht nur die »Weihnachtserinnerungen« von Dylan Thomas gelesen, sondern auch das Gedicht »Der Heilige Abend« des amerikanischen Dichters Clement Moore in der kostbaren Ausgabe mit Illustrationen von Arthur Rackam, die seinem Vater gehörte. Dickens’ »Weihnachtsmärchen« hatten sie mit verteilten Rollen gelesen, sodass fast so etwas wie ein Theaterstück daraus geworden war. Und anschließend hatten sie die Weihnachtserzählung aus dem Lukasevangelium gelesen; noch heute lief ihm ein Schauer über den Rücken, wenn er die vertrauten Worte hörte. Und dann hatten sie Weihnachtslieder gesungen, begleitet von seinem Vater am Klavier.
Insgesamt ein Bild ungetrübter Freuden – solange seine selektive Erinnerung solche Dinge ausblendete wie die ständigen Streitereien zwischen ihm und Juliet darüber, wer was lesen durfte, das Kneifen und Schubsen während des Singens oder das Jahr, in dem er sich törichterweise an einem Solo bei »Stille Nacht« versucht hatte, obwohl bei ihm gerade der Stimmbruch eingesetzt hatte.
Als er und seine Schwester älter geworden waren, hatten sie sich natürlich immer öfter entschuldigt und sich an Heiligabend mit Freunden verabredet, und als sie siebzehn oder achtzehn waren, war von den ganzen Familientraditionen nichts mehr übrig geblieben bis auf den gemeinsamen Besuch der Christmette.
Bis vor kurzem war ihm nicht klar gewesen, wie viel die Rituale und die festen Strukturen dieser Weihnachtsfeste seiner Kindheit ihm bedeutet hatten. Er hatte für ihre Kinder etwas Ähnliches schaffen wollen, doch nun hatte er den Verdacht,
dass er mit seinen Bemühungen eher Gemma als die Kinder hatte verzaubern können. Er spürte, wie sie an seiner Seite zitterte, und sagte leise: »Gehen wir wieder ans Feuer zurück. Das ist ein Abend, den man besser drinnen verbringen sollte. Ich bin froh, dass wir uns entschieden haben, nicht in die Kirche zu gehen.«
»Ich wollte lieber hier sein, in unserem Heim«, sagte Gemma, während sie sich in der Ecke des Sofas zusammenkuschelte. Mit einem Satz war Geordie an ihrer Seite und legte mit einem zufriedenen Seufzer seine Schnauze auf ihr Knie. Sie mussten beide lachen.
Geordie hatte keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass er Gemmas Hund war. Zu allen anderen war er lieb und
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