Der Ramses-Code
Feldzügen des Kaisers gefochten, sie hatten die Sonne von Austerlitz und Borodino gesehen, unter den Pyramiden gesiegt, bei Marengo, Jena oderWagram, und sie hatten den Kaiser in seinen beiden schwärzesten Momenten wohlbehalten nach Frankreich zurückgebracht, aus Moskau und aus Leipzig. Wo immer sie auftauchten, wankte der Feind. Jeder Soldat träumte davon, in dieser Truppe zu dienen.
Genau 1000 Mann der Eliteeinheit hatten Napoleon nach dessen Abdankung als persönliche Leibwache auf die Insel Elba begleitet. Nun marschierten sie in wohlgeordneter Kolonne, inmitten der Bauernhaufen, die jubelnd zu beiden Seiten der Straße mitliefen, auf das Stadttor zu, gefolgt vom 7. Regiment La Bédoyères.
»Soldaten!« rief General Marchand, der oben auf dem Tor stand, mit gebieterischer Stimme. »Wir haben genug Kanonen und Munition, um diesen kleinen Haufen da draußen zusammenzuschießen. Ladet die Kanonen. Sie sind in Schußweite!«
»Wir schießen nicht auf Frankreichs Stolz!« rief der junge Sappeur von vorhin mit bebender Stimme, und seine Augen blitzen vor Todesmut.
Marchand war verwirrt. Keiner der Kanoniere befolgte seinen Befehl. »Nehmen Sie diesen Kerl da fest, und führen Sie ihn in den Arrest. Er wird morgen vor ein Kriegsgericht gestellt«, befahl er einem Leutnant. Dann wandte er sich wieder den Artilleristen zu und schrie: »Ladet die Kanonen! Das ist ein Befehl!«
Die Kanoniere verschränkten die Arme vor der Brust. Der Leutnant versuchte vergeblich, zwei Grenadiere zu bewegen, den Sappeur festzunehmen. Ein Artillerist ließ einen Strick an der Außenseite der Mauer hinab, seilte sich ab und lief den Ankömmlingen entgegen. Seine Kameraden auf dem Wehrgang begleiteten die Aktion mit Beifallsrufen.
»Das ist Meuterei!« brüllte Marchand mit überschnappender Stimme, zog seinen Säbel und schlug mit der flachen Seite auf die Kanoniere ein. »Ihr sollt feuern! Schießt sie über den Haufen, schießt, verdammtes bonapartistisches Gesindel!«
Die Volksmenge zu Füßen des Tores nahm eine drohende Haltung an; einige der Männer hielten plötzlich Steine undKnüppel in den Händen. »Schlagt doch zurück!« forderten sie die Kanoniere auf. Doch die begannen statt dessen, Kanonenkugeln und Munition von der Mauer zu werfen. Andere folgten dem Beispiel des Überläufers. »Macht das Tor auf!« rief es aus der Menge.
Marchand begriff, daß der Posten verloren war und es nunmehr um sein Leben ging. Er sammelte seine wenigen Getreuen um sich und floh von der Mauer. Niemand beachtete ihn, denn wie Fackelschein und der anschwellende Geräuschpegel verrieten, war die Garde am Tor angekommen. »Es lebe der Kaiser!«, »Es lebe die Freiheit!« rief die Menge. Von beiden Seiten wurde gegen die Bohlen gehämmert, doch Marchand hatte das Tor abgeschlossen und den Schlüssel mit sich genommen. Die mächtigen, eisenbeschlagenen Flügel widerstanden allen Stößen.
Dann wurde es auf einmal still, und eine Männerstimme erklang: »So öffnet doch! Aber es wird ja nicht geöffnet!«
Napoleon!
Die braven Grenobler Bürger gebärdeten sich plötzlich wie irrsinnig. Der Kaiser kam nicht in die Stadt! Irgendein Royalist hatte den Torschlüssel mitgenommen! Sie johlten und pfiffen, trommelten mit Händen und Füßen gegen die Eichenbohlen, sie brüllten aus Leibeskräften »Es lebe der Kaiser!«, »Nieder mit den Bourbonen!« und »Tor auf, Tor auf!« Endlich brachte eine Schar kräftiger Männer, es waren die städtischen Stellmacher und Zimmerleute, einen Rammbock herbeigeschleppt, und unter dem anfeuernden Geschrei der Menge schmetterten sie ihn gegen das Tor, bis es splitternd und krachend nachgab.
Während General Marchand und einige königstreue Offiziere inmitten der letzten Adelskaleschen durch das Tor Saint-Laurent am entgegengesetzten und völlig menschenleeren Ende der Stadt flohen, zog Napoleon unter Jubelstürmen in das von Tausenden Fackeln taghell erleuchtete Grenoble ein. Die Menge raste; die Gardisten hatten alle Hände voll zu tun, den kleinen Mann vor den begeisterten Menschenmassen zu schützen.
»Was für ein Tag!« brüllte Jacques-Joseph seinem Bruderins Ohr. »Als Abenteurer zieht er in Grenoble ein, als Kaiser wird er die Stadt verlassen!«
Die Menschen lachten und weinten, jubelten, tanzten und brüllten vor Begeisterung, als sei der Heiland persönlich erschienen. Auch Jean-François, der bis zur Ankunft Napoleons kühles Blut bewahrt hatte, konnte nun seine Erschütterung nicht mehr verbergen.
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