Der Ramses-Code
derzeit hauptsächlich mit Fragen der Optik, und auch auf diesem Gebiet herrscht seit mindestens anderthalb Jahrtausenden gedankliche Unklarheit. Außerdem halte ich für die Royal Institution regelmäßig Vorlesungen über Akustik, Elektrizitätslehre, Wärmelehre, über die Physik von Flüssigkeiten und Gasen, über Astronomie, Tier- und Pflanzenkunde, Navigation, Vermessung, Hafen- und Kanalbau sowie Wetterkunde, und zwar jeden zweiten Tag sechs Stunden.« Der blasierte Zug um seinen Mund verstärkte sich. Auf das Antlitz des Ministersdagegen malte sich Verblüffung. »Großer Gott«, sagte er beinahe erschrocken, »in allen diesen Disziplinen geben Sie Unterricht?«
»Ich bin so frei«, entgegnete Young, »und schließlich muß ich auch noch diese Praxis hier führen. Damit sind meine Tage gefüllt. Um meine Erkenntnisse zu publizieren, bedarf es der Nächte. Wann, bitteschön, soll ich mich ägyptischen Altertümern widmen?«
»Aus welchem Grund führen Sie diese Praxis? Bringt es Ihnen viel ein?«
»Ich sagte doch, daß es mir nicht um Geld geht, sondern um meine Pflicht. Ich habe Patienten, und ich empfinde mich auch als Arzt. Der wahre Gelehrte strebt nach tiefer Einsicht in alle Gebiete. Gibt es denn keine Gelehrten an Englands Universitäten, die sich auf alte Sprachen verstehen?«
»Mein lieber Young – entschuldigen Sie, wenn ich ›mein lieber‹ sage«, mischte sich nun Ravenglass ein, »mir ist bekannt, daß Sie dreizehn verschiedene Sprachen sprechen und namentlich in den alten Idiomen zu Hause sind, die orientalischen eingeschlossen. Mir ist ferner bekannt, daß Sie, noch als Student in Göttingen, ein Alphabet sämtlicher Laute aufgestellt haben, die das menschliche Stimmorgan zu bilden imstande ist, 47 an der Zahl, wenn ich mich recht entsinne, sozusagen ein Alphabet für eine Universalsprache – und daß Sie sich seit jeher gern mit alten Handschriften beschäftigen. Die Herren vom Fach, wie Sie sie nennen, haben vor der Inschrift auf dem Dreisprachenstein kapituliert, denn die Herren vom Fach folgen immer nur dem Leittier, egal, ob es in die Irre geht. Und nachdem das Leittier Sacy aus Paris verkündet hat, die Hieroglyphen seien nicht zu entschlüsseln, blökt die ganze Herde: Sie sind nicht zu entschlüsseln! Jemand, der von außen auf die Sache blickt, ist hier vonnöten, ein unbefangener, vorurteilsfreier Mann, dem nicht die Scheuklappen seines vermeintlichen Expertentums die Sicht beschneiden. Sie sind Naturwissenschaftler, Sie kennen die Gesetze von Mathematik und Logik, Sie beherrschen die alten Sprachen, Sie sind genial und, wie mir versichert wurde, einFreund der geistigen Herausforderung. Ergo: Sie sind der Mann, der dieses Rätsel lösen kann. Versuchen Sie es wenigstens!«
Alle Wetter, dachte Hawkesbury, das war kein schlechtes Plädoyer.
»Gewiß«, bestätigte der Physiker, ohne durch eine Veränderung des Gesichtsausdrucks Rückschlüsse darauf zuzulassen, ob ihn der Vortrag beeindruckt hatte, »es gibt kein Rätsel, das dem Ansturm des abendländischen Geistes auf Dauer standhalten könnte. Wenn die Hieroglyphen eine Schrift sind, die ehedem verstanden wurde – und offenbar sind sie eine Schrift, denn sonst könnten sie nicht übersetzt worden sein –, dann kann man sie auch lesen. Ganz einfach durch Überlegung …«
»Ganz einfach?« fragte Ravenglass lauernd. »Warum tun Sie’s dann nicht?«
»Ich meinte nicht, daß es einfach sein wird, sondern daß einfach Überlegung jedes Rätsel löst«, erklärte Young. »Wie lange einer überlegt, ob ein, zwei oder zehn Jahre, und wie viele mit ihrer Grübelei nie zum Ziel kommen, steht auf einem anderen Blatt. Begreifen Sie mich doch bitte, mir stehen wirklich nicht die Jahre zur Verfügung, die man für eine solche Aufgabe benötigt.«
Da verlor Ravenglass wieder einmal die Contenance. »Zum Teufel«, schrie er und schlug mit der Faust auf den Tisch, »wieso weigern Sie sich, den Interessen Englands zu dienen? Sind Ihre Jahre vielleicht zu kostbar dafür?« Das Falkengesicht des Barons war tiefrot angelaufen.
»Bitte, lieber Ravenglass, mäßigen Sie sich«, stieß der Minister entsetzt hervor, »wir können den Professor schließlich nicht zwingen!«
»Nein, leider nicht.« Ravenglass lehnte sich zurück und funkelte den Physiker böse an. »Entschuldigen Sie, Gentlemen«, fügte er hinzu, »ich glaube, wir vergeuden hier nur unsere Zeit, und zwar jeder die seine. Aber ich wollte es noch einmal versucht haben.« Mit
Weitere Kostenlose Bücher