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Der Ramses-Code

Der Ramses-Code

Titel: Der Ramses-Code Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Klonovsky
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kaum möglich war, die Zeit durch Lektüre zu vertreiben, denn das notorische Hin und Her des Verschlags ließ die Zeilen springen, so daß die überforderten Augen schnell zu schmerzen begannen.
    Obgleich Jean-François sich erst der Vollendung seines siebzehnten Lebensjahres näherte, war das einstige Wunderkind längst kein Jüngling mehr. Ihm sproß bereits ein dichterschwarzer Backenbart, außerdem war er breitschultrig und kräftig gewachsen, kurzum: Er war, vielleicht etwas vor der Zeit, ein Mann geworden.
    Ihm gegenüber saß Jacques-Joseph, der Bruder, und schlief, Kopf an Kopf mit einer ebenfalls schlafenden, schwarzlockigen jungen Frau. Es war Zoë Berriat, seine Gemahlin, jene reizende Person, die Jean-François erstmals in Grenoble auf dem Fest zu Ehren Fouriers gesehen hatte. Die Eheleute hatten sich in eine wollene Decke gehüllt, die sie gegen die Morgenkühle schützen sollte, aber nun, angesichts der durchbrechenden Septembersonne, nicht mehr vonnöten gewesen wäre. Ihre Hochzeit hatten sie im Frühjahr gefeiert, im Hause der Berriats, deren Familienoberhaupt, Emile Berriat, ein im ganzen Departement bekannter Zivilrichter und Rechtsgelehrter war. Jean-François, der sich seither immer stärker als das fünfte Rad am Wagen empfunden hatte und glaubte, er fiele dem jungen Paar zur Last, war froh, daß er nun Grenoble verlassen und nach Paris umziehen konnte, um am Collège de France zu studieren, wo er unter anderem die Vorlesungen des berühmten Silvestre de Sacy hören würde. Jacques-Joseph begleitete den Bruder, dem er in den Belangen des alltäglichen Lebens noch keine sonderliche Selbständigkeit zutraute. Die Jungvermählten betrachteten die Reise gleichzeitig als eine Art nachgeholter Flitterwochen, denn der in vielerlei Amtsgeschäfte eingespannte Jacques-Joseph – er arbeitete seit einiger Zeit als Privatsekretär des Präfekten sowie als ständiger Sekretär der Delphinatischen Akademie – hatte zuvor keine Zeit für eine reguläre Hochzeitsreise gefunden.
    Es saßen noch drei weitere Passagiere in der Kutsche, deren Route von Marseille über Grenoble, Lyon, Dijon und Troyes, wo man das letzte Mal an einer Poststation Rast gemacht hatte, nach Paris führte: ein älteres Tuchfabrikanten-Ehepaar, das in Lyon zugestiegen war, sowie ein aus Marseille kommender Kavallerist, ein Rittmeister, der die dunkelgrüne Uniform der Dragoner trug, auf der silberne Epauletten blitzten. Am Haken über seinem Kopf baumelte der mit geflecktem Seehundsfell verbrämte Kupferhelm, von dessen Spitze ein martialischer schwarzer Roßhaarschweif herabhing. DerOffizier war ungewöhnlich penibel rasiert – im Unterschied zu allen anderen Kavallerie-Einheiten gingen die Dragoner grundsätzlich glattrasiert, aus Korpsgeist, wie der Mann versichert hatte –, und über seine linke Wange zog sich, durch die Bartlosigkeit wie auf einem Präsentierteller dargeboten, eine wulstig aufgeworfene, fleischfarbene Säbelnarbe, die auch in die Oberlippe hineinklaffte und dem Reiter ein furchterregendes Aussehen verlieh. Sein Regiment hatte bei Austerlitz mitgefochten, der berühmten Dreikaiserschlacht, in der Napoleon Österreicher und Russen vernichtend schlug, und die Blessur in der linken Gesichtshälfte war das Andenken eines Kosaken – nach Darstellung des Rittmeisters übrigens der letzte Hieb, den der Russe in seinem Leben austeilen konnte. Überhaupt wußte dieser moderne Achilles sehr anschaulich über das Gemetzel auf den Höhen von Pratzen zu berichten, von denen die Franzosen den moskowitischen Gegner in zwei halb zugefrorene Teiche gedrängt und völlig aufgerieben hatten. Seine lebhaften Schilderungen hatten ein paar Stunden der monotonen Fahrt überbrückt und insbesondere Jacques-Joseph begeistert – Jean-François war kein Bewunderer der kaiserlichen Kriegszüge, weil er in seinem Alter allmählich fürchten mußte, zur Truppe eingezogen zu werden.
    Seit fast drei Jahren regierte Bonaparte als Napoleon I., Kaiser von Frankreich. Halb Europa lag unter seinem Stiefel. Österreich, mehrfach geschlagen, zitterte vor jeder seiner Regungen, in Italien regierte Napoleons Stiefsohn Eugène Beauharnais als Vizekönig, Preußen war im vergangenen Jahr besiegt und besetzt worden, ganz Deutschland hatte sich dem Imperator unterworfen. Danach hatte er einen Krieg gegen Rußland geführt, als dessen Präludium Polen besetzt und das Filetstück des Landes, umbenannt in »Großherzogtum Warschau«, dem ihm sklavisch

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