Der Ramses-Code
so betreten.«
»Nun, man sieht nicht alle Tage einen Gelehrten, der sich im Seiltanz übt«, entgegenete der Angesprochene indigniert.
Young lachte. »Haben Ihnen meine Künste nicht gefallen? Nun ja, ich muß an der Wende noch etwas üben, aber für den Anfang? Doch wir sollten bei der Kälte nicht länger hier draußen herumstehen. Der Tee wartet bestimmt schon. Ich muß nur noch dieses Seil abbinden. So, ihr Lausejungs«, rief er den Gaffern zu und klatschte in die Hände, »hopphopp, es gibt hier nichts mehr zu sehen!«
»Verzeihen Sie die Frage«, ließ sich Hawkesbury vernehmen, »aber wieso treiben Sie hier Allotria auf der Straße? Soll das Sport sein?«
»Oh, es handelt sich um eine Wette«, versetzte der Physiker. »Es mag kindisch klingen, aber wenn mir jemand eine Wette anbietet, auf deren Ausgang ich Einfluß habe, kann ich schwer widerstehen. Vor kurzem disputierte ich mit einembefreundeten Arzt über die stupende Fähigkeit des Homo sapiens, seine Motorik durch Übung zu den absurdesten Leistungen zu treiben. Der Disput endete mit der Bemerkung des Kollegen, er wette darauf, daß ich nicht in der Lage sei, binnen zweier Wochen zu lernen, auf dem Seil zu gehen. Wie es sich anläßt, wird er verlieren.«
Hawkesbury sah Ravenglass vielsagend an. Dann folgten die beiden dem Physiker ins Haus.
Youngs Sprechzimmer war ein kleiner Raum, dessen Ausstattung nur einen Schreibtisch, mehrere Stühle, Aktenschrank und Ofen umfaßte. Eine halb offenstehende Tür führte ins benachbarte Behandlungszimmer. Der Gastgeber nahm hinter dem Arbeitstisch Platz und goß den Besuchern Tee ein. »Gentlemen«, sagte er, auf die schlichte Uhr blickend, die auf dem Fensterbrett tickte, »ich habe eine knappe Stunde Zeit, danach erwarte ich einen Patienten. Was kann ich für Sie tun?«
Hawkesbury war verwundert von der Kargheit des Zimmers wie von der selbstgefälligen Nonchalance dieses Mannes, der ihn ohne jeden Anflug von Respekt empfangen hatte, ganz so, als gäben sich die Mitglieder der Regierung hier üblicherweise die Klinke in die Hand. Wohlhabend schien der da durch seine Arbeit nicht zu werden. Oder war es understatement? Jedenfalls besaß er die Frechheit, den Besuchern ein Zeitmaß zu setzen. Entweder dieser seiltanzende Quacksalber war tatsächlich ein Genie, dann mußte man sein Verhalten wohl tolerieren, oder er war größenwahnsinnig.
»Beginnen wir ohne Umschweife«, sagte Ravenglass. »Seine Lordschaft und ich kommen in patriotischer Mission. Ich habe Ihnen schon einmal auseinandergesetzt, warum ich die Enträtselung des Steines von Rosette für eine Angelegenheit halte, der sowohl politisch als auch wissenschaftlich eine enorme Bedeutung zukommt. Vielleicht verleiht das persönliche Engagement des Außenministers meinem Ansinnen nun die nötige Schwere.«
Young hob abwehrend die Hände. »Ich habe mit keinem Wort bestritten, daß Ihr Ansinnen bedeutend sei. Aber ich sagte Ihnen doch bereits, daß ich nicht der richtige Mann für Sie bin.«
»Falsch«, versetzte Ravenglass, »Sie sagten, Sie hätten keine Zeit.«
»Das außerdem«, erwiderte der Physiker.
»Aber nun haben Sie Ihre Theorie des Lichtes publiziert. Nun müßten Sie doch den Kopf frei haben für ein solches Abenteuer. Statt dessen tanzen Sie auf dem Seil.«
Young verzog das Gesicht. Hawkesbury bemerkte, daß sein Begleiter offenbar nicht in der Lage war, sein Gegenüber mit Diplomatie und Geschick auf den gewünschten Weg zu bringen. »Verehrter Professor«, mischte er sich also ein, »ich will durch mein Erscheinen unterstreichen, daß es sich hier keinesfalls nur um einen Spleen des Barons handelt, sondern in der Tat um, nun ja, den Ruhm und das Ansehen Englands. Ich könnte es so formulieren: Die Regierung wünscht, daß ein Engländer die Hieroglyphen entziffert.«
»Oh, das wünsche ich auch!« rief Young, und seine Augen blitzten ironisch.
»Geht es am Ende nur um ein entsprechendes Honorar?« fragte der Minister.
Wieder hob Young abwehrend die Hände. »Ich bitte Sie, beschämen Sie mich nicht! Ich bin ein Mann der Wissenschaft und außerdem Quäker. Ich lebe von dem, was ich mir verdiene, und arbeite an Dingen, die ich für meine Pflicht halte. Geld interessiert mich nicht.«
»Und der Ruhm, der erste zu sein, der eine Sprache wieder zum Klingen bringt, die seit mehr als anderthalb Jahrtausenden tot ist?« wandte Hawkesbury ein.
»Ich verstehe nichts von dieser Materie; wie Sie vielleicht wissen, beschäftige ich mich
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