Der Rebell
Kopf tauchte auf. War das alles nur ein Traum? Oder ein Fantasiebild, von ihrer Todesangst heraufbeschworen?
»Ian«, flüsterte sie.
»Alles in Ordnung?« Klatschnaß klebte das nasse Haar an seinem Kopf, die bronzebraunen Schultern glänzten.
»Ja. Mein Vater ...«
»Bist du nicht verletzt?«
»Nein, aber Papa ...«
»Komm, ich bringe dich an Land.« In seinen Augen lag ein sonderbarer Ausdruck. Natürlich erschien er fremd, nachdem sie ihn monatelang nicht gesehen hatte. Er glitt durch das Wasser zu ihr und umschlang ihre Taille.
»Aber — der Mann wird uns folgen.«
»Nein, er ist tot.«
Schaudernd drehte sie sich um und sah Thayer in den Wellen treiben.
Ian schwamm mit ihr zum Ufer. Als sie durch seichte Wellen wateten, bebten ihre Knie, und sie war dankbar für Ians starken Arm, der sie stützte. Seine Nähe erinnerte sie daran, wie schmerzlich sie ihn vermißt hatte. Obwohl er nach der langen Trennung wie ein Fremder wirkte, freute sie sich über das Wiedersehen. »Ein Glück, daß du rechtzeitig zur Stelle warst, Ian ... Das alles geschah so schnell ... Aber wieso bist du hier?«
»Julian und ich fuhren gestern mit einem Navy-Schiff zum Haus meines Onkels. Dort haben wir übernachtet. Heute segelten wir mit Jerome hierher, und da sahen wir ein Boot am Strand liegen.«
»Was waren das für Männer?«
»Deserteure, die von Soldaten verfolgt wurden.«
Inzwischen hatten sie das Ufer erreicht. Alaina stolperte, und Ian hielt sie fest. Unsicher lächelte sie ihn an. »Mein Vater wird sich über deinen Besuch freuen — vor allem, weil du uns in letzter Minute zu Hilfe gekommen bist. In all den Monaten ist nichts auf unserer Insel passiert ...« Verwirrt unterbrach sie sich. Warum schwieg er so beharrlich? »Ian ...«
Er blickte unverwandt nach vorn. Und da erkannte sie, warum. Zwischen den Limonenbäumen hatte sich eine Gruppe gebildet. Reglos lag der jüngere Flüchtling am Boden, Fliegen umschwirrten seinen Körper. Er war tot. Diese Erkenntnis hätte Alaina unter anderen Umständen bedrückt, ebenso wie die Erinnerung an die Leiche, die im Wasser trieb — ganz einfach, weil sie gelernt hatte, wie kostbar jedes Leben war.
Doch das Leben ihres Vaters war am kostbarsten.
Jerome, Jennifer und Julian knieten an Teddys Seite. Unbehaglich standen die Soldaten in der Nähe.
Mit flinken Fingern zerfetzte Jennifer ihren Unterrock. Julian, die geöffnete Arzttasche neben sich, versuchte die Blutung zu stoppen, die Teddys Hemd über der Brust dunkelrot färbte.
»Papa!« schrie Alaina. In wilder Panik riß sie sich von Ian los, rannte zu ihrem Vater und sank auf die Knie. Lächelnd öffnete er die sanften blauen Augen, und sie preßte seine Hand an ihre Wange. »O Papa, alles wird gut. Jetzt bringen wir dich ins Haus ...« »Dem Himmel sei Dank, mein Kind, du bist gerettet«, hauchte er.
»Ja, Papa, und Julian wird auch dich am Leben erhalten.«
Sein Blick verschleierte sich. »Alaina ...«
»Sprich nicht, Papa, du mußt deine Kräfte schonen.« Angstvoll starrte sie Julian an, der sich zu seinem Bruder wandte. Da erkannte sie, daß Ian eine stumme Frage gestellt hatte.
Und Julian schüttelte den Kopf.
»Nein!« stöhnte Alaina. »Bitte, Julian ...«
Zitternd umschlossen Teddys Finger ihre Hand. »Meine Tochter, ich liebe dich ...«
»O Gott, Papa, sag nichts!«
»Ian ...«
»Hier bin ich, Sir.«
»Paß gut auf sie auf«, wisperte Teddy. Dann schloß er die Augen, und sein Herz hörte zu schlagen auf.
13
Alaina war untröstlich. Und Ian hatte sich noch nie in seinem Leben so hilflos gefühlt. Immer wieder versuchte er, die richtigen Worte zu finden. Doch sie hörte ihm gar nicht zu, während sie ihren Vater in den Armen hielt.
Zunächst glaubte sie nicht an seinen Tod, dann weigerte sie sich, ihn loszulassen.
Sie saß zwischen den Limonenbäumen, Teddys Kopf in ihrem Schoß. Unentwegt strömten Tränen über ihre Wangen. Ian kniete neben ihr, einen Arm um ihre Schultern gelegt. »Julian ...«
»Stör sie nicht. Sie muß weinen. Das gehört nun mal zur Trauer.«
Krampfhaft zuckte ihr Körper in Ians Arm. Als er den Kopf hob, sah er, wie sein Vetter die Leiche des jüngeren Flüchtlings zum Boot der Soldaten trug. Dann holte Jerome den anderen, den Ian getötet hatte, aus dem Wasser und brachte ihn ebenfalls an Bord.
Die Deserteure sollten nicht auf der Insel begraben werden. Erbost sprach er mit den drei Grünschnäbeln, die am Ufer standen. Wenig später stiegen sie in ihr Boot und
Weitere Kostenlose Bücher