Der Rosenmord
sehen, welche Möglichkeiten sich da bieten. Wollt Ihr ihn laut vorlesen, Anselm?«
Anselm faltete das Blatt ganz auf und las mit der einschmeichelnden Stimme, die bei der Liturgie so gut die Zuhörer mitreißen konnte:
»– Hiermit wird kundgetan, daß ich, Judith, die Tochter von Richard Vestier und die Witwe von Edred Perle, im vollen Besitz meiner Geisteskräfte mein Haus in der Vorstadt, gelegen zwischen der Abteischmiede und dem Haus von Thomas, dem Hufschmied, samt dazugehörigem Garten und Grundstück gegen ein jährliches Entgelt von einer weißen Rose an Gott und den Marienaltar in der Abtei zu St. Peter und St. Paul übertrage. Besagte weiße Rose, vom Strauch an der Nordmauer des Gartens zu schneiden, ist mir, Judith, auf Lebenszeit jedes Jahr am Tage der Grablegung von St.
Winifred zu übergeben. Aufgesetzt im Beisein folgender Zeugen: Bruder Anselm, Vorsänger, und Bruder Cadfael für die Abtei; aus der Stadt John Ruddock, Nicholas von Meole, Henry Wyle -«
»Gut!« erklärte der Abt mit einem tiefen, zufriedenen Schnaufen, als Anselm das Blatt auf seinen Schoß sinken ließ.
»Es wird nicht erwähnt, wer die Miete überbringen soll. Dort steht nur, daß sie an einem bestimmten Tag der Stifterin selbst gegeben werden muß. Also können wir Bruder Eluric entschuldigen, ohne den Vertrag zu verletzen, und einen anderen schicken, um die Rose zu überbringen. Es gibt keine Beschränkungen, die Abtei kann für diese Aufgabe benennen, wen sie will.«
»Ganz gewiß«, pflichtete Anselm sofort bei. »Aber wenn Ihr alle Jungen ausschließen wollt, Vater, um sie nicht in Versuchung zu führen, und wenn Ihr uns Altere ausschließt, um nicht den Verdacht von Schwäche und möglicherweise sogar einem Vergehen auf Bruder Eluric zu lenken, dann bleibt doch im Grunde nur ein Laienbruder oder ein Diener.«
»Das wäre nach dem Vertrag eindeutig zulässig«, erklärte Radulfus sachlich, »aber ich hielte es nicht für schicklich. Ich möchte nach wie vor unsere Dankbarkeit für die großzügige Gabe dieser Frau zum Ausdruck bringen und ihre geringfügige Forderung mit allergrößter Achtung erfüllen. Die Rose bedeutet ihr viel, und wir müssen ihren Wunsch ebenso ernst nehmen wie sie selbst. Ich bitte Euch um Eure Meinung zu dieser Angelegenheit.«
»Die Rose«, begann Cadfael langsam und bedächtig, »stammt aus dem Garten und von jenem Busch, den die Witwe in ihren Ehejahren zusammen mit ihrem Mann gepflegt hat. Im Haus gibt es jetzt einen Mieter, einen anständigen Witwer und einen ehrbaren Handwerker, der den Busch gut pflegt. Er hat ihn ordentlich gestutzt und gewässert, seit er dort lebt. Warum sollen wir nicht ihn bitten, die Rose zu überbringen? Kein Umweg, kein Dritter, der auf Befehl handelt, sondern ganz direkt vom Busch zur Besitzerin? Er ist der Mieter, sie ist die Empfängerin, und der Segen geht auch ohne ein weiteres Wort mit der Rose.«
Er war nicht ganz sicher, was ihn bewegte, diesen Vorschlag zu machen. Vielleicht war es der Wein, erst Hughs und dann der des Abtes, dessen Wärme ihn an die glückliche Familie in der Stadt denken ließ. Die Wärme dieser Ehe auf der einen und die mönchischen Gelübde auf der anderen Seite bezeugten, daß der Himmel nur die allerbesten Absichten mit den Menschen haben konnte. Was immer ihn bewegt hatte, diesen Vorschlag zu machen, es ging hier ganz gewiß um eine Begegnung zwischen Mann und Frau, die unter einem ganz besonderen Vorzeichen stand, wie Eluric bereits allzu deutlich bewiesen hatte. Nun sollte der Streiter, der in die Schlacht geschickt wurde, ein reifer Mann sein, der Frauen, Liebe, Ehe und Verlust bereits kannte.
»Das ist ein guter Einfall«, erklärte Anselm, nachdem er ruhig nachgedacht hatte. »Wenn schon ein Laie, wer wäre dann besser geeignet als der Mieter? Auch er profitiert von der Stiftung. Er ist zufrieden mit dem Haus, da sein altes zu weit von der Stadt entfernt und zu klein war.«
»Und glaubt Ihr, er ist dazu bereit?« fragte der Abt.
»Fragen kostet nichts. Er hat schon einmal für die Frau gearbeitet, sie kennen sich bereits«, erwiderte Cadfael. »Und je besser seine Kontakte zu den Stadtleuten sind, desto besser ist es für sein Geschäft. Ich glaube, er wird keine Einwände erheben.«
»Dann«, entschied der Abt zufrieden, »will ich morgen Vitalis schicken, der ihm die Angelegenheit unterbreiten soll. Damit wäre dann hoffentlich unser Problem, so klein es auch ist, glücklich beigelegt.«
3. Kapitel
Bruder Vitalis
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