Der Rote Mond Von Kaikoura
aus ihrem Mund gekommen, als sie es gewollt hatte, doch immerhin hob Henare nun den Kopf.
»Mein Großvater meinte, dass es einen besonders guten Ort für die Beobachtung gäbe. Eine Lichtung in der Nähe des marae . Innerhalb eines Steinkreises …«
»Das ist heiliger Boden für die Maori.«
»Ja, ich weiß, aber er meinte, dass Sie mir vielleicht helfen könnten, die Erlaubnis zu bekommen, ihn zu betreten.« Lillians Stimme erstarb. Henare machte keine Anstalten, einzulenken.
»Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht helfen«, bestätigte er ihr schließlich, was sein Gesichtsausdruck ihr bereits gesagt hatte. »Außerhalb von Kaikoura gibt es sicher Flecken, die ebenso geeignet sind.« Wieder wandte er sich seinem Papier zu.
Wenn mein Großvater ihn gefragt hätte, wäre er dann genauso abweisend gewesen?, dachte sie traurig.
»Was ist los mit Ihnen, Henare?«, fragte Lillian kleinlaut, während sie gegen ihre Tränen ankämpfte. »Sie sind doch der Assistent meines Großvaters. Wollen Sie denn, dass er mit seiner Arbeit scheitert? Er würde sicher noch ein Stück schneller genesen, wenn ich ihm die Ergebnisse der Finsternis bringen könnte.«
»Ich glaube kaum, dass es von mir abhängt, ob Sie den Mond beobachten oder nicht. Meinetwegen reiten Sie zum marae und sprechen dort mit dem tohunga . Er wird Ihnen bestimmt die Erlaubnis geben.«
Damit wandte er sich wieder seinen Unterlagen zu.
Lillian stand zunächst ratlos da, hoffte darauf, dass er es sich doch noch einmal überlegen würde. Doch Henares Blick blieb an das Papier geheftet, als warte er nur darauf, dass sie endlich verschwand. Erneut fragte sie sich, was nur in ihn gefahren sei – bis es ihr plötzlich dämmerte.
»Außerdem, wenn Sie erst mal Mr Ravenfields Frau sind, werden Sie ohnehin nicht mehr viel Zeit für die Sternwarte haben«, sagte Henare, ohne richtig aufzublicken.
»Wer sagt denn, dass ich seine Frau werde?«, brauste Lillian auf. »Ich kann mir schon denken, was Ihnen zu Ohren gekommen ist. Doch ich sage Ihnen, als Mr Ravenfield und ich nach Christchurch gefahren sind, ist nichts passiert. Als er zudringlich wurde, habe ich ihn in die Schranken gewiesen. Und Sie können mir glauben, dass ich bestimmt nicht wieder allein mit ihm bleibe.«
Damit stampfte sie wütend aus dem Zelt. Sollte er sich seinen heiligen Ort doch sonst wohin stecken! Sie würde einen anderen Platz finden, von dem aus sie die Finsternis beobachten konnte. Und wenn sie nirgends etwas fand, würde sie eben auf das Baugerüst klettern.
Sie wollte gerade ihr Pferd ableinen, als hinter ihr ein Ruf ertönte.
»Miss Ehrenfels!«
Als Lillian sich umwandte, eilte Henare mit langen Schritten auf sie zu. Ich sollte auf der Stelle aufs Pferd steigen und davonreiten, dachte sie trotzig, doch sie brachte es nicht über sich.
»Was?«, fragte sie kühl, während sie den Knoten in der Leine löste und die kleine Stute herumzog.
»Bitte verzeihen Sie mir mein Benehmen«, antwortete Henare zerknirscht. »Natürlich möchte ich Ihren Großvater unterstützen – und auch Sie. Ich weiß gar nicht, was da über mich gekommen ist …«
»Sie haben das Geschwätz über mich und Ravenfield gehört«, lieferte sie ihm die Erklärung. »Glauben Sie denn wirklich, ich hätte so wenig Anstand im Leibe? Sie können mir glauben, es ist nichts passiert. Und ich bin auch nicht sicher, ob ich ihn jemals wiedersehen will.«
Diese Worte schienen Henare tatsächlich zu freuen.
»Ich bitte nochmals um Verzeihung, Miss Ehrenfels.«
Lillian bemühte sich, keine Miene zu verziehen. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, sagte sie sich. Und was ich privat tue, geht ihn nichts an, denn hier stehen die Arbeit und Großvaters Vorhaben im Vordergrund. »Also gut, werden Sie mir helfen?«
»Natürlich.« Ein Lächeln huschte über Henares Gesicht. »Ich glaube schon, dass wir an den heiligen Ort gehen können. Der tohunga des Stammes lässt sich des Öfteren hier blicken, Ihr Großvater hatte sich vor Kurzem erst mit ihm unterhalten.«
Großvater hatte mit dem Schamanen gesprochen? Lillian versagte es sich, diese Frage laut zu stellen. Gleichzeitig wunderte sie sich darüber, dass er ihr nichts davon erzählt hatte. Was hatte der Heiler von ihm gewollt?
Wieder geisterte ihr durch den Sinn, wie sich die beiden Männer bei ihrem Besuch im Dorf angesehen hatten. Wollte der tohunga sein Wissen mit ihrem Großvater austauschen?
»In Ordnung, dann sprechen Sie doch bitte mit ihm«, sagte
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