Der Rote Mond Von Kaikoura
den Anblick der Lampen und versuchte, ihre schwirrenden Gedanken in den Griff zu bekommen.
Als der Mond fast über ihnen stand, war die Mondfinsternis schon recht weit fortgeschritten. Nur noch etwa eine halbe Stunde, dachte Lillian, während sie mit sicherer Hand Notizen machte und dann wieder durch das Fernrohr sah. Dann wird die Finsternis vollkommen sein. Jedenfalls aus astronomischer Sicht, denn bereits jetzt zeichnete sich ab, dass der Mond für das Auge des Betrachters nicht vollkommen verschwinden würde. Normalerweise war der Mond auch bei totaler Finsternis noch zu erkennen, als dunkelrotbraune Scheibe. Bei diesem Mond war das anders. Schon als er in den Erdschatten eingetreten war, zeigte sich das, und je weiter die Finsternis fortschritt, desto klarer wurde Lillian, dass sie es mit einem ganz besonderen Ereignis zu tun hatte. Ein Blutmond, sagte sie sich, während ihr Puls in die Höhe schnellte. Wie schade, dass Großvater ihn nicht richtig beobachten kann!
Nachdem sie erneut etwas niedergeschrieben hatte, blickte sie zu ihrem Begleiter.
Henare wirkte auf einmal ein wenig blass.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte Lillian besorgt. »Ist Ihnen nicht gut?«
»Der Mond ist rot«, entgegnete Henare.
»Ja, ein sehr seltenes Ereignis. Man nennt das bei uns Blutmond.«
»Kennt Ihr Volk Geschichten über diesen Blutmond?«
»Er wurde in früheren Zeiten als Unglücksbringer angesehen. Manche abergläubischen Leute glauben noch heute, dass einem Blutmond Kriege und Katastrophen folgen.«
»Auch für mein Volk ist ein roter Mond kein gutes Zeichen«, sagte Henare, während er den Blick nicht von dem rot glimmenden Gestirn ließ. »Aotearoa ist ein Land, das oft von Erdbeben heimgesucht wird. Manche behaupten, dass in früheren Zeiten viele Erdbeben mit einem roten Mond in Verbindung gestanden hätten.«
Lillian zog die Augenbrauen hoch. Trotz des Aberglaubens der Europäer war bei einem Blutmond nur selten etwas Schlimmes passiert, was nicht auch zu anderen Zeiten passiert wäre. Katastrophen und Kriege gab es auch ohne eine totale Mondfinsternis zuhauf, und es hatte sich auch herausgestellt, dass Sonnenfinsternisse keine Unglücksboten waren, wie die Menschen zuweilen noch immer glaubten.
Doch Henare wirkte ernsthaft beunruhigt.
»Meinen Sie wirklich, es könnte etwas passieren?«, fragte sie, worauf er noch eine Weile zum Mond aufblickte und dann den Kopf schüttelte.
»Ich weiß es nicht. Niemand kann Erdbeben vorhersagen, nicht einmal die Weisen der Maori.«
»Vielleicht gelingt es eines Tages des Wissenschaft«, entgegnete Lillian. »Viele Dinge, die nicht für möglich gehalten wurden, hat sie bereits bewerkstelligt, und wir stehen noch am Anfang.«
»Ja, das hoffe ich, denn die Menschen hier, besonders die Weißen, haben viel zu verlieren. Die Maori, die schon seit Jahrhunderten auf dieser Insel leben, haben gelernt, sich vor seinem Wüten zu schützen. Aber die pakeha könnte es unvorbereitet treffen.«
Diese Worte beunruhigten Lillian nun doch ein bisschen, denn sie hatte von verheerenden Erdbeben gelesen und wusste, dass diese keinen Stein auf dem anderen lassen würden. Aber meist waren diese Unglücke doch wohl passiert, wenn kein roter Mond am Himmel stand.
»Bei den Maori gibt es übrigens eine hübsche Geschichte über den Mondmann.«
»Den Mondmann?«, fragte Lillian amüsiert, nachdem sie ein paar Notizen gemacht hatte.
»Ja, über den Mondmann. Er verliebte sich eines Tages unsterblich in ein Menschenmädchen, das jeden Abend vor seinem Haus stand und zum Mond hinaufblickte. Seine Liebe ging schließlich so weit, dass er beschloss, für sie menschliche Gestalt anzunehmen. Kaum war er jedoch auf der Erde und wollte sich dem Mädchen nähern, da stellte er fest, dass die Eltern des Mädchens ihre Tochter bereits einem anderen versprochen hatten. Dennoch näherte er sich ihr, und die beiden verliebten sich. Allerdings konnte sich das Mädchen nicht gegen den Willen seiner Eltern stellen. Als sie sich zum letzten Mal trafen, wurden sie von ihrem Bräutigam beobachtet. Rasend vor Wut stellte er die beiden und erschlug das Mädchen. Den Mondmann allerdings bekam er nicht zu fassen. Unfähig, seiner Geliebten zu helfen, und außer sich vor Trauer, färbte er sich am Himmel blutrot, um den Menschen das Unrecht zu zeigen. Seitdem glauben die Menschen hier, dass ein blutroter Mond Unglück verheißen würde, für die Menschen und für die Liebe.«
Kaum hatte Henare seine Geschichte beendet,
Weitere Kostenlose Bücher