Der Rote Mond Von Kaikoura
raschelte es hinter ihnen. Zunächst war in der Dunkelheit nichts zu erkennen, doch als er näher trat, fiel ein Lichtschein auf das Gesicht des alten Schamanen.
Lillian, die ganz versunken in die Erzählung gewesen war, blickte ihn zunächst verwirrt an, doch dann erinnerte sie sich, dass er herkommen und mit ihnen den Mond ansehen wollte.
»Haere mai«, sagte Henare mit einer kleinen Verbeugung, »Wir hatten dich eigentlich eher erwartet.«
»So ist es eben mit dem Alter, manchmal findet es die Wege schlechter als die Jugend.«
Bei dem Schalk, der in seinen Augen blitzte, vermutete Lillian, dass er sie schon seit einer Weile beobachtet hatte. Hatte er mitbekommen, wie Henare ihr die Geschichte von dem Mondmann erzählt hatte?
»Ihr habt den Blutmond gesehen?«, fragte er und blickte dann nach oben. Noch immer leuchtete das verschattete Stück rot, doch der Mond war bereits wieder dabei, sich ins Licht zurückzukämpfen.
»Ja, das haben wir«, antwortete Lillian, während sie sich erhob. »Möchten Sie vielleicht einmal durch das Teleskop schauen? Sie können dann jeden Krater erkennen.«
Ein versonnenes Lächeln huschte über das Gesicht des Alten. »Gern. Meine Augen sind zwar noch nicht vollends getrübt, doch auch wenn ich ein junger Mann wäre, würde ich den Mond mit bloßem Auge nicht so gut sehen wie durch ihre Gerätschaften.«
Ein wenig ungelenk beugte er sich über das Teleskop, kniff ein Auge zusammen und spähte mit dem freien Auge durch das Okular. Dabei bewegten sich seine Lippen, als würde er irgendwelche Zauberformeln murmeln.
Als er sich wieder aufrichtete, war seine Miene rätselhaft. »Ein roter Mond ist ein Omen. Etwas wird in der nächsten Zeit geschehen, etwas, was das Leben aller Menschen hier verändern wird.«
»Sie glauben also auch, dass es zu einem Unglück kommen wird?«
»Es hat schon vorher Anzeichen für Veränderungen gegeben«, antwortete er ausweichend. »Allerdings kann niemand sagen, wie diese Veränderungen aussehen werden. Ob es ein Unglück sein wird … Wir müssen uns auf den Willen von papa und rangi verlassen.«
Als der Mond den Erdschatten wieder verlassen hatte, verabschiedete sich der alte Heiler, und Lillian und Henare nutzten den Rest der Nacht, um noch ein wenig Schlaf zu bekommen.
Als sie am Morgen wieder erwachten, war das Erste, was Lillian wieder einfiel, die Geschichte von dem Mondmann. Was für eine schöne und gleichzeitig traurige Erzählung! Sie war sicher, dass sie Adele gefallen würde. Ebenso wie die Schilderung der Finsternis, obwohl Adele Mond und Sterne lieber als Schmuckstücke des Himmels ansah und nicht so sehr als Forschungsobjekte.
Nachdem sie die Reste des Proviants verzehrt hatten, machten sie sich auf den Heimweg. Die meiste Zeit über schwiegen sie, doch immer wieder schweifte Lillians Blick zu Henare. Dieser schien das zu spüren, denn er wandte den Kopf zur Seite und lächelte.
Lillian wusste nicht, wieso, doch sie hatte das Gefühl, dass die Nacht unter dem Blutmond ein Band zwischen ihnen geknüpft hatte. Natürlich nur ein Freundschaftsband, jedenfalls versuchte sie sich das einzureden, obwohl sie wusste, dass da noch etwas anderes war. Und auf einmal wurde es ihr klar: Henare verstand sie und war in seiner Art anders als andere Männer. Und vollkommen anders als Ravenfield. Offenbar hatte ihr Herz das schon eine ganze Weile gewusst; ihr Verstand hatte es nur ignoriert.
Gegen Mittag erreichten sie den Waldrand.
»Kommen Sie nicht mit in die Stadt?«, fragte Lillian verwundert, als Henare sein Pferd zügelte.
»Ich fürchte, ich muss wieder zur Baustelle zurück«, entgegnete er. »Aber wir sehen uns ja in ein paar Tagen wieder. Passen Sie so lange gut auf Ihren Großvater auf.«
»Das mache ich«, entgegnete sie, winkte ihm noch einmal zu und ritt dann in Richtung Stadt.
25
Bei ihrer Rückkehr stand ein Pferd neben ihrem Gartenzaun, das sie gleich erkannte: Auf diesem Tier war Caldwell mit ihnen zum Maori-Dorf geritten. Als der Vierbeiner sie bemerkte, wandte er den Kopf und schnaufte leise.
Lillian zögerte einen Moment. Was hatte Caldwell hier zu suchen? Wollte er sich nur erkundigen, wie es seinem Geschäftspartner ging? Ein merkwürdiges Gefühl überkam sie auf einmal. Eigentlich war nichts dabei, dass Caldwell hier war, doch warum hatte er sie vorher nicht informiert? Sie hätte ihm einen besseren Empfang bereiten können als ihr Großvater.
Du erfährst es nicht, wenn du nicht hineingehst, sagte sie sich
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