Der rote Salon
sogar die Erwachsenen einen Trittwinkel brauchten, um dranzukommen. Wie hatte ich sie in meiner Kindheit zu beknien, die erwachsenen Gottheiten! Welche unhaltbaren Versprechen wurden uns abgenötigt, das gute Betragen im nächsten Jahr betreffend! Ich drohte in eine rührselig-stumpfsinnige Dämmerstimmung zu verfallen, was – glaube ich – der verborgene Hauptzweck solcher christlichen Feste ist.
Am zehnten Dezember 1793, eine knappe Stunde vor Sonnenaufgang, als gerade der achte Schlag von der Dreifaltigkeitskirche ausgeschwungen war, klopfte es hart und fordernd an unsere Haustür. Man konnte schon am Klang erkennen, dass da nicht irgendwer anpochte. Marthe, unser Hausmädchen, kam bestürzt in die Stube und brachte nur ein Wort heraus:
»Polizei!«
Jérôme warf mir einen belustigten Blick zu.
»Sie finden etwas an der Schreckenslaterne auszusetzen … Wahrscheinlich ist ihnen unser Modell zu revolutionär!«
Wie groß die Angst der Deutschen vor den Emigranten und vor allem Französischen war, hatten wir in den letzten Wochen immer wieder zu spüren bekommen. Die wenigsten Eingeborenen wussten etwas Genaues über die eigentlichen Hintergründe dieser Massenflucht aus Frankreich ins früher so wahlfranzösische Berlin. Nur natürlich, dass die Vermutungen über die Ankömmlinge ins Kraut schossen. Wir nahmen uns streng in Acht und überlegten immer genau, was wir sagten. Der preußische König hatte seine Beamten angewiesen, jede Form des Jakobinertums aufs Schärfste zu bekämpfen. Die Monarchen Europas fassten sich nach der Hinrichtung des Königs und der Königin von Frankreich unweigerlich an den eigenen Hals …
»Herr de Lalande, gnädige Frau …«, sagte der Eintretende, lächelte kaum merklich, als er mich ansah, und fügte hinzu: »Sie kennen mich, wissen aber nicht, wo sie mich hintun sollen!«
Vier weitere Polizeioffiziere blieben vor dem Haus stehen. Der große ergraute, spindeldürre Mann kam mir wirklich irgendwie bekannt vor. Sein Gesicht war glatt, die Wangen schmal, die längliche Nase hatte eine leichte Neigung zum Krummsäbel. Seine Stirn war hoch, und die Ohren lagen an.Die Augen funkelten wie kleine grünliche Kieselsteine. »Stimmt, mein Herr! Es gehört sich nicht, mit dem Unwissen der anderen Schindluder zu treiben! Heraus damit, wo haben wir uns …«
Nachdem er die Folter, auf die mich sein Anblick gespannt hatte, noch einen Moment wirken ließ, erlöste er mich mit den Worten:
»Möglich, dass Sie sich eines jungen Polizeicommissars entsinnen, der mit Ihnen im Blumenthalwald aus einer Flasche trank?«
Er hatte zu Jérôme hingesehen, der die Stirn in teuflische Falten legte und mir scherzhaft zürnte:
»Liebste, ich wusste schon immer, dass du mir etwas verschwiegen hast!«
Ja, ich entsann mich dieser Szene: Urgroßvater und ich standen nach der Besichtigung eines schauerlichen Schauplatzes im Wald bei Prötzel” * und stärkten uns mit Branntwein. Ich hatte eigentlich angenommen, dass niemand meinen Schluck bemerken würde … Jetzt hatte ich es:
»Oh – natürlich! Sie sehen blendend aus! Herr Distel, nicht wahr? Wie geht es Ihrem Chef, dem Polizeipräsidenten? Ist Cit… äh … Herr Philippi wohlauf? Braucht Ihr Chef wieder meine Hilfe?«
Revolutionsterminologie war so eingängig. Den
Citoyen
und die
Citoyenne
bekam ich einfach nicht aus dem Kopf. Immerhin hatte ich begriffen, dass man hier im Amtsjargon des reaktionären Feindeslandes weniger
Monsieur
als vielmehr
Herr
sagte. So hieß auch die
Madame
jetzt
Frau
. Die normalen Berliner waren zum Glück noch immer weitaus französischer und weniger gutdeutsch im Umgang.
»Bedaure, gnädige Frau! Herr Philippi weilt nicht mehr unter uns. Ich bin sein Nachfolger. Aber, ja, wenn Sie es so nennen wollen: Ich brauche Ihre Hilfe, Sie müssen mir ein paar Fragen beantworten.«
Der einstige Adjunkt war also jetzt Polizeichef! Er ließ mir keine Zeit, mich für meine Ignoranz zu schämen.
»Haben Sie diesen Brief geschrieben?«
»Verzeihen Sie, Polizeipräsident! Ich gratuliere Ihnen! Der Wechsel fiel in die Jahre unserer Abwesenheit. Von welchem Brief …« Schon während ich fragte, erkannte ich ihn. Es war der, den ich zuletzt an Anne de Pouquet geschrieben hatte. »Ja, das habe ich.«
Mitunter braucht mein Kopf länger, als er sollte, um das Offensichtliche zu begreifen. Etwas stimmte nicht. In meinem Brief stand so gut wie nichts, die Frage nach dem Weihnachtsbesuch hatte ich mir verkniffen – wie auch in den
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