Der Rote Wolf
Anschließend ging sie zur Küchentür zurück und sah den Mann wie versteinert und mit trüben Augen am Tisch sitzen.
»Danke«, sagte sie leise.
Er sah sie an und versuchte zu lächeln.
»Ach, übrigens, hatte Margit kleine Füße?«, sagte Annika.
»Größe 36«, antwortete der Mann.
Sie ließ ihn an dem Kieferntisch in der gepflegten Küche zurück, wo der ungetrunkene Kaffee in den Tassen langsam erkaltete.
Das Auto war in der Zwischenzeit völlig ausgekühlt, sodass sie ihre Polarjacke anbehielt. Einen Moment lang bildete sie sich ein, der Motor werde nicht anspringen und sie in ihrem Mietwagen zwischen den nahezu identischen Siebziger-Jahre-Bauten zu einer Steinsäule gefrieren, für alle Zeit festgenagelt in Familie Axelssons Lebenslügen.
Sie drehte den Schlüssel mit solcher Kraft, dass das Metall fast nachgab. Der Motor sprang mit einem zögernden Röcheln an, sie atmete aus und sah die feuchte Atemluft auf der Innenseite der Windschutzscheibe sofort zu Eis werden. Dann legte sie den Rückwärtsgang ein, der lautstark protestierte, setzte auf die Straße zurück und hoffte, bei dem Manöver nirgendwo anzuecken, denn sie hatte die Heckscheibe nicht freigekratzt.
Die beiden Töchter gingen am Auto vorbei, und Annika versuchte zu lächeln und winkte unbeholfen ihren fragenden Gesichtern zu.
Das Gummi der Räder knirschte auf der vereisten Straße, als sie Richtung Stadt rollte. Ihr war ein wenig übel, sie hatte den Geruch des Spülmittels noch in der Nase, Gedanken schössen ihr wirr durch den Kopf. Sagte Thord Axelsson die Wahrheit? Übertrieb er? Oder verschwieg er ihr etwas?
Sie fuhr an einem Gymnasium, der Kirche und einem Kaufhaus vorbei, und ehe sie es merkte, hatte sie das Stadtzentrum bereits hinter sich gelassen.
Er hat die Tat seiner Frau nicht beschönigt, dachte Annika, und auch nicht entschuldigt. Im Gegenteil, ganz nüchtern hat er festgestellt, dass sie das Flugbenzin angezündet und dadurch das Flugzeug zur Explosion gebracht hat.
Er hat es nicht einmal als einen Unfall dargestellt. Hätte er lügen wollen, dann hätte er es an diesem Punkt getan.
Die wilden Tiere, dachte sie. Der Gelbe Drache, was für eine Idee, was für ein Bockmist. Der Löwe der Freiheit, der Bellende Hund, der Rote Wolf, der Schwarze Panther, der Weiße Tiger.
Wo seid ihr heute, dachte sie und fuhr wieder auf das verlassene Autobahnteilstück, diesmal jedoch in Richtung Lulea.
Der Gelbe Drache, Göran Nilsson, der heimgekehrte Profikiller. Der Bellende Hund, Margit Axelsson, ermordete Vorschullehrerin. Der Rote Wolf, Karina Björnlund, Kultusministerin, die in Panik Änderungen in einer Gesetzesvorlage der Regierung vornimmt.
Und ihr anderen? Drei schwedische Männer mittleren Alters, wo habt ihr euch versteckt? Wie viel habt ihr vergessen?
Sie fuhr an der Abfahrt Norrfjärden vorüber, spürte die Kälte an den Füßen. Das Thermometer war auf minus 29 Grad gefallen, die Sonne ging unter und verbreitete am Horizont blassgelbes Licht. Es war halb zwei.
Der Kinderfinger, dachte sie. Kann das wirklich wahr sein?
Sie schluckte und musste das Seitenfenster für ein paar Sekunden herunterkurbeln, um Luft zu bekommen. Thord hatte ihr nicht gesagt, welche Drohung das beigefügte Schreiben enthalten hatte, aber die wilden Tiere waren nie verpfiffen worden.
Sie glaubte an den Finger.
Der Anschlag, drei Personen waren dabei gewesen, Margit, Göran und ein weiterer Mann. Stimmte das?
Margits Schuhgröße war identisch mit der Größe der Fußabdrücke, die am Tatort gesichert werden konnten. Thord Axelssons Geschichte enthielt folglich Details, die den Ablauf der Ereignisse glaubhaft machten, auch wenn sie die theoretischen Möglichkeiten natürlich mit dem Pressesprecher des Fliegerhorsts abgleichen würde. Warum sollte sie also Thords Angabe zur Personenzahl anzweifeln?
Karina Björnlund war nicht dabei gewesen. Sie war unschuldig, zumindest in Bezug auf die eigentliche Tat, was natürlich nicht ausschloss, dass sie an der Planung beteiligt gewesen sein konnte, vielleicht auch auf anderem Wege behilflich gewesen war. Aber vor allem hatte sie mit Sicherheit davon gewusst.
»Woher willst du das wissen?«, sagte Annika laut zu sich selbst. Wenn Thord die Wahrheit sagte, war es sehr wohl möglich, dass sie nichts von dem Anschlag gewusst hatte. Sie hatte Göran verlassen und wollte mit der Gruppe brechen.
Aber wieso war sie dann erpressbar? Warum ließ sie sich von Herman Wennergren zur Änderung einer
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