Der Rote Wolf
Bürgersteigkante, schaltete in den Leerlauf und zog die Handbremse, starrte die Ministerin an und holte wieder ihr Handy heraus. Sie wählte die Nummer des Ministeriums und bat, mit der Pressesprecherin der Kultusministerin verbunden zu werden.
Diese teilte ihr mit, dass Karina Björnlund freihatte.
»Ich habe eine Frage zu der Gesetzesvorlage, die morgen vorgestellt werden soll«, sagte Annika, ohne die Frau am Ende der Warteschlange aus den Augen zu lassen. »Ich muss eigentlich heute noch mit ihr sprechen.«
»Das geht leider nicht«, erwiderte die Pressesprecherin freundlich. »Karina Björnlund ist verreist und kommt erst am späten Abend wieder zurück.«
»Ist es nicht ein bisschen seltsam, dass eine Ministerin sich freinimmt, wenn am nächsten Tag eine große Gesetzesvorlage in das Parlament eingebracht wird?«, sagte Annika langsam und starrte Karina Björnlunds dunklen Pelzmantel an.
Die Pressesprecherin zögerte.
»Es ist eine Privatangelegenheit«, sagte sie dann leise. »Karina Björnlund wurde zu einer äußerst dringenden Besprechung gerufen, die sich leider nicht verschieben ließ. Ich gebe durchaus zu, dass der Zeitpunkt ausgesprochen unglücklich ist, und die Ministerin hat es entsprechend bedauert, fahren zu müssen.«
»Aber sie kommt heute Abend zurück?«
»Das hoffte sie jedenfalls.«
Welche Art von privater Besprechung konnte eine Ministerin dazu bewegen, ihre Arbeit so zu vernachlässigen? Die schwere Erkrankung eines Angehörigen, eines Gatten oder eines Kindes oder eines Elternteils?
Eine Besprechung in Lulea, etwas Unaufschiebbares, wichtiger als alles andere.
Der Rote Wolf.
Die Zusammenkunft, mit der die Rückkehr des Drachen gefeiert werden sollte.
Annika brach der Schweiß aus.
»Danke«, sagte sie und beendete das Gespräch.
Sie fuhr an dem Bus vorbei, sah im Rückspiegel die Ministerin einsteigen, ließ den Bus vorfahren und folgte ihm in zweihundert Meter Entfernung.
Kurz vor der Bergnäs-Brücke beschloss sie, näher heranzufahren.
Du sitzt da drin, dachte Annika und starrte die verdreckte Heckscheibe des Fahrzeugs an. Du bist irgendwohin unterwegs, wo du nicht gesehen werden willst, aber ich bin auch hier.
Und dann sangen die Engel ganz ruhig, langsam und wehmütig,
Wintermonat, Eiskristalle …
»Maul halten!«, schrie Annika und schlug sich mit der flachen Hand so heftig gegen die Stirn, dass sie Sternchen sah, und die Stimmen verschwanden.
Sie fuhr über die Brücke, gelangte in die eisige Stadt und passierte Häuser, Schneewälle und eisbedeckte Autos und bog an einer roten Ampel neben einer Tankstelle links ab. Der Flughafenbus hielt an einer Haltestelle gegenüber der wuchtigen Fassade des Stadthotels. Annika bremste und lehnte sich vor, um die Fahrgäste zu erkennen, die hier ausstiegen. Ihr Atem ging schneller und ließ die Windschutzscheibe beschlagen, sodass sie das Glas mit dem Ärmel freiwischen musste.
Karina Björnlund stieg als Vorletzte aus. Die Kultusministerin verließ den Bus mit vorsichtigen Schritten. Sie trug eine schwarze Ledertasche in der Hand.
Annika spürte, dass sie jeden Moment anfangen würde zu hyperventilieren. Ich muss in eine Tüte atmen, dachte sie, wusste aber, dass sie keine dabeihatte.
Stattdessen hielt sie die Luft an und zählte dreimal bis zehn, bis sich ihr Puls schließlich wieder beruhigte.
Es wurde allmählich dunkel, aber die Abenddämmerung schritt in dieser Gegend ebenso langsam und gemächlich voran wie das Morgengrauen, und sie konnte Karina Björnlund aus Karlsvik deutlich an der Bushaltestelle frieren sehen, eine breite und dunkle Frauengestalt in einem Pelzmantel, aber ohne Mütze.
Der Rote Wolf, dachte Annika und versuchte ihre Gesichtszüge in den Schatten auszumachen. Sie meinte erkennen zu können, dass ihre Augen unruhig und traurig waren.
Was tust du hier?
Ihre Mutter wohnt in der Storgatan, dachte sie. Vielleicht ist sie ja dorthin unterwegs.
Doch dann wurde ihr schlagartig klar: Das hier war ja die Storgatan. Warum stand sie an einer Haltestelle? Um zu einem anderen Ziel zu fahren? Sie war nicht gekommen, um ihre Mutter zu besuchen.
Im Rückspiegel tauchten die Scheinwerfer eines Busses auf. Sie legte einen Gang ein und rollte ein paar Meter, passierte die kleine Menschenansammlung, die an der Haltestelle wartete, und sah im Spiegel, dass Karina Björnlund ihre Tasche nahm und einstieg.
Ich werde dem Bus folgen und schauen, wo sie aussteigt, dachte Annika und fuhr ein paar Meter, bis sie
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