Der Rote Wolf
Stadtteil Lövskatan hermetisch abgeriegelt hatte, weshalb der Mann auf das von einer Eisschicht bedeckte Meer geflüchtet war. Glücklicherweise standen der Polizei Hubschrauber mit Wärmebildkameras zur Verfügung, da sie am Vortag nach einem verschwundenen Dreijährigen gesucht hatte. Er überflog hastig den Text und blätterte weiter.
Als Nächstes folgte ein Artikel darüber, dass Annika mit Mitgliedern der terroristischen Vereinigung
Die wilden Tiere
in einem verlassenen Kompressorenhaus in der Nähe des Eisenhüttenwerks von Lulea gefangen gehalten worden war und wie sie es geschafft hatte, die Polizei zu alarmieren, bevor sie in die Hände der Terroristen geriet. Außerdem konnte Thomas dem Artikel entnehmen, dass sie das Leben des Frührentners Yngve Gustafsson gerettet hatte, indem sie ihn mit ihrer eigenen Körperwärme vor dem Tod durch Erfrieren bewahrte.
Thomas verspürte bei diesem Satz einen Stich im Unterleib und musste schlucken. Er hörte auf zu lesen und betrachtete stattdessen die Bilder. Eine schöne Aufnahme von Annika in der Redaktion. Darunter das Foto eines kleinen roten Backsteinhauses.
Seine Frau hätte dort ums Leben kommen können.
Er strich sich über die Haare und zog an seiner Krawatte.
Annika war dem Mörder entflohen, indem sie sich vor einen Eisenerzzug geworfen und anschließend einen guten Kilometer zum Werk von SSAB zurückgelegt hatte, um in der Westlichen Wache Alarm zu schlagen. Reporter Patrik Nilsson hatte den Artikel geschrieben, Annika selbst war interviewt worden und hatte nur gesagt, es gehe ihr gut und sie sei froh, dass nun alles vorbei sei.
Er schnaubte, sie war doch nicht ganz bei Trost, was dachte sie sich eigentlich?
Wie konnte sie sich nur solchen Gefahren aussetzen, ohne an ihn und die Kinder zu denken? Darüber mussten sie unbedingt reden, so konnte sie nicht weitermachen.
Die folgenden Seiten waren Kultusministerin Karina Björnlund gewidmet, die berichtete, wie sie Ende der sechziger Jahre zu den wilden Tieren gestoßen war, einer maoistischen Splittergruppe in Lulea. Nachdem Björnlund sie verlassen hatte, war die Gruppe radikal und gewalttätig geworden, eine Entwicklung, die sie zutiefst bedauerte. Die Ministerin versuchte einen Zeitgeist zu beschrei ben, eine Suche nach Gerechtigkeit und Freiheit, die auf Abwege geraten war.
Der Premierminister begrüßte ihren freimütigen Bericht und versicherte, sie genieße auch in Zukunft sein volles Vertrauen.
Die Wahrheit über den Anschlag auf den Fliegerhorst F21 folgte auf der nächsten Doppelseite. Der nunmehr dingfest gemachte Serienmörder hatte damals die Militärmaschine zur Explosion gebracht.
Er übersprang den Text, nachdem er Einleitung und Bildunterschrift gelesen hatte. Auf den folgenden Seiten ging es um den Profikiller Ragnwald, einen der skrupellosesten Terroristen der ETA, der Polizei und Sicherheitsdienste in aller Welt mehr als drei Jahrzehnte lang genarrt hatte. Er war in dem Kompressorenhaus erfroren, während Annika und die anderen ohnmächtig zusehen mussten.
Thomas betrachtete die unscharfe Fotografie eines jungen Mannes, der dunkelhaarig und schlaksig war und weiche Gesichtszüge hatte.
Dann ging es erneut um Annika. Der Artikel fasste die Stationen ihrer Karriere zusammen.
Er legte die Hand auf ihr Gesicht und schloss die Augen.
Seltsamerweise hatte er das Gefühl, dass die Zeitungsseite Wärme abstrahlte. Du bist bei mir, dachte er.
Im nächsten Moment klingelte sein Telefon, und er hob lächelnd ab.
»Ich muss dich sofort sehen«, heulte Sophia Grenborg. »Es ist etwas Schreckliches passiert. Ich komme zu dir.«
Für einen Moment wurde auch er von ihrer Panik erfasst, und seine Kehle schnürte sich zu. Terroristen, Profikiller, erfrorene Menschen.
Dann beruhigte er sich wieder, Sophias schreckliche Erlebnisse waren mit Annikas sicher nicht zu vergleichen. Er räusperte sich, sah auf die Uhr und suchte nach einem Grund, ihr aus dem Weg zu gehen.
»Der Kongressausschuss trifft sich in einer Viertelstunde zu einer Besprechung«, sagte er und errötete, weil er sie anlog. »Ich bin in fünf Minuten bei dir.«
Sie legte auf, und er blieb mit einem undefinierbaren Summton im Kopf sitzen.
Letzten Freitag hatte sie sich noch gefreut, dass sie bei einer Umfrage der Zeitung
Landtagswelt
die Frage beantworten durfte, was sie sich zu Weihnachten wünschte.
»Ich habe gesagt, dich«, hatte sie geflüstert und ihn leicht aufs Ohr geküsst.
Er betrachtete die Titelseite
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