Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
breit. »Matthew wird ihnen bestätigen, wie leicht tragische Unfälle passieren können.«
Matthews Finger auf der Reling waren weiß vor Anspannung. Alles in ihm schrie danach, das Risiko einzugehen, einfach ins Wasser zu springen. »Bring die Frauen unter Deck.«
»Was wird aus Buck, wenn er dich erschießt?«
Matthew schüttelte den Kopf und ließ sich von dem Rauschen
in seinem Kopf mitreißen. »Ich brauche nur zehn Sekunden. Zehn verdammte Sekunden.« Und ein Messer, mit dem er VanDykes Kehle aufschlitzen konnte.
»Und was wird aus Buck?«, wiederholte Ray eindringlich.
»Du erwartest doch nicht etwa von mir, dass ich jetzt aufgebe?«
»Nein, ich befehle es dir.« Wut und Furcht verliehen Ray die Kraft, Matthew von der Reling zu drängen. »Das hier ist nicht dein Leben wert! Und noch viel weniger ist es das Leben meiner Familie wert. Übernimm das Steuer, Matthew. Wir fahren zurück nach Saint Kitts.«
Der Gedanke an einen Rückzug ließ Übelkeit in ihm aufkommen. Wenn er allein gewesen wäre … Aber er war nicht allein. Schweigend wandte er sich ab und ging in Richtung Brücke.
»Eine weise Entscheidung, Raymond«, kommentierte VanDyke mit einem Hauch von Bewunderung in der Stimme. »Sehr weise. Ich fürchte, der Junge ist ein wenig übermütig, kein reifer, vernünftiger Mann wie Sie und ich. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen. Mrs. Beaumont, Tate …« Wieder tippte er an den Rand seines Hutes. »Gute Fahrt.«
»Oh, Ray.« Als das Boot wendete, ging Marla mit weichen Knien zu ihrem Mann. »Sie hätten uns umgebracht!«
Hilflos strich Ray über ihr Haar und beobachtete, wie VanDykes Gestalt immer kleiner wurde. »Wir wenden uns an die Behörden«, sagte er leise.
Tate ließ ihre Eltern stehen und lief zur Brücke. Dort hatte Matthew das Steuerrad umklammert und hielt entschlossen Kurs.
»Wir hatten keine andere Wahl«, begann sie. Etwas in seiner Haltung hielt sie davon ab, ihn zu berühren. Als er nicht antwortete, trat sie noch näher, hielt ihre Hände jedoch bei sich. »Er hätte dich erschießen lassen, Matthew. Genau das
wollte er. Wir werden Anzeige erstatten, sobald wir an Land sind.«
»Und was soll das bringen?« In seiner bitteren Stimme schwang etwas mit, das sie nicht als Scham erkannte. »Geld siegt immer.«
»Wir haben alles richtig gemacht«, wiederholte sie. »Die Aufzeichnungen –«
Mit einem Blick schnitt er ihr das Wort ab. »Sei nicht dumm. Es gibt keine Aufzeichnungen. Es gibt nichts, was ihm nicht in den Kram passt. Er nimmt sich das Wrack, räumt es leer, reißt sich alles unter den Nagel. Und ich lasse es zu. Ich habe einfach dagestanden und zugesehen, genau wie damals vor neun Jahren, und habe nichts dagegen unternommen.«
»Du hättest nichts gegen ihn ausrichten können.« Entgegen ihrem Instinkt legte sie eine Hand auf seinen Rücken. »Matthew …«
»Lass mich in Ruhe.«
»Aber Matthew –«
»Lass mich verdammt noch mal in Ruhe!«
Hilflos und verletzt gab sie seinem Wunsch nach.
Abends saß Tate im Hotelzimmer. Sie vermutete, dass man ihre Erstarrung als Schockzustand bezeichnen konnte. Der Tag hatte aus einer Reihe von Rückschlägen bestanden und endete mit dem Eingeständnis ihres Vaters, dass es bei den Ämtern keinerlei Aufzeichnungen bezüglich ihrer Rechte gab. Keines der Formulare, die sie so sorgfältig ausgefüllt hatten, existierte, und der Beamte, bei dem Ray den Anspruch hatte registrieren lassen, stritt ab, ihn je zuvor gesehen zu haben.
Es bestand kein Zweifel daran, dass Silas VanDyke gewonnen hatte. Wieder einmal.
Alles, was sie erreicht hatten, dazu die harte Arbeit, Bucks Schmerzen – alles war umsonst gewesen. Zum ersten Mal in
ihrem Leben musste Tate der Tatsache ins Auge sehen, dass Recht zu haben und Recht zu bekommen nicht immer ein und dasselbe waren.
Sie dachte an die wunderschönen Dinge, die sie in ihren Händen gehalten hatte. Das Smaragdkreuz, das Porzellan, die antiken Gegenstände, die sie aus dem Sandbett ausgegraben und an Bord gebracht hatten.
Nie mehr würde sie sie berühren oder in einem Museum hinter Glas betrachten können. Kein dezentes Schild würde darauf hinweisen, dass sie zur Beaumont-Lassiter-Sammlung gehörten. Sie würde den Namen ihres Vaters nicht im National Geographic lesen oder ihre Fotos auf Hochglanzpapier abgedruckt sehen.
Sie hatten verloren.
Und es beschämte sie, sich einzugestehen, wie sehr sie sich nach diesem gewissen Ruhm gesehnt hatte. Sie hatte sich
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